50 Fontane Blätter 118 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte Auf andere Art setzte Raabe, exzellenter Kenner der Geschichtswissenschaft seiner Zeit, einen Kontrapunkt zur herrschenden Historiographie des Kaiserreichs. Dies hat die Forschung bereits herausgearbeitet 75 und dabei auch vereinzelt auf das Thema der Kriegsdarstellung verwiesen. 76 Während des Krieges zwischen Preußen und Österreich im Jahr 1866 schrieb Raabe seine Novelle Im Siegeskranze, die noch im selben Jahr publiziert und bis zum Ende des Jahrhunderts mehrmals neu aufgelegt wurde. Der Text ließ die für den preußischen Bellizismus zentrale Idee vom Heldentod fürs Vaterland fragwürdig erscheinen. Er erzählt von einer jungen Frau, deren Bräutigam sich 1813 einer Miliz anschließen will und daraufhin von den französischen Besatzern hingerichtet wird; die junge Frau verfällt dem Wahnsinn. 77 Nach der Reichsgründung widmet sich Raabe dann in den Erzählungen Die Innerste und Das Odfeld dem Siebenjährigen Krieg und damit einem weiteren zentralen Ereignis der nationalistisch-heroischen Geschichtsdarstellungen. Die Abreise Wilhelm I. zu den Truppen im Jahr 1870 und seine Rückkehr nach Berlin 1871 inszenierte die Propaganda im Stil des friderizianischen Feldherrenkönigtums. 78 Da die borussische Historiographie den Siebenjährigen Krieg als Staatsbildungskrieg deutete, 79 lag es nahe, eine Analogie zum deutsch -französischen Krieg zu ziehen. Vom Bild des Krieges als notwendig aus der Geschichte resultierenden Akt der Gemeinschaftsstiftung und Staatsgründung ist ein Text wie Das Odfeld jedoch denkbar weit entfernt. Der Siebenjährige Krieg erscheint hier als Wiederkehr der ewig gleichen, von den Römern bis Friedrich II. sich hinziehenden »weltgeschichtlichen Katzbalgereien«, 80 im Zentrum stehen nicht preußische Heldentaten, sondern die Gewalt- und Fluchterfahrungen einer Gruppe von Außenseitern. Diese Gewalterfahrungen bezieht Raabe in der Erzählung Die Innerste , an der er drei Jahre nach der Reichsgründung zu arbeiten beginnt, direkt auf die Vorbilder Friedrich Wilhelm I. und Friedrich II. Der König führe den Siebenjährigen Krieg, so der prügelnde Vater Christian,»um der ganzen Welt zu zeigen, daß die Rute immer noch hinter dem Spiegel stecke«. 81 Raabes düstere Darstellung der Zeit des Siebenjährigen Krieges stellt in Die Innerste zugleich einen Konnex zwischen Krieg und Naturzerstörung her. Die Innerste ist der Name eines Flusses, der im Harz entspringt und bei Hildesheim in die Leine mündet. Sie habe, so der Erzähler, durch den Eingriff des Menschen schweren Schaden genommen. Die Bergwerke des Harzes tun ihr»alle erdenkliche Schmach an«, verschmutzten sie durch ihre Abfälle, so dass die Innerste heute»heimtückisch« und»blutdürstig« geworden sei. 82 Der Müller Christian, dessen Mühle an der Innersten liegt, opfert ihr deshalb am Ende des Jahres ein schwarzes Huhn. Er gibt aber noch eine andere Begründung des feindseligen Charakters des Flusses, nämlich den Dreißigjährigen Krieg:
Heft  
(2024) 118
Seite
50
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