Heft 
(2024) 118
Seite
52
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52 Fontane Blätter 118 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte Pathos. Fontane beklagte in den 1880er-Jahren in seinen Briefen an Georg Friedlaender die Militarisierung zu Zeiten des Wilhelminismus , Raabe die »Anmaßung« und den»Größenwahn«, der sich in Deutschland breitma­che. 87 Entsprechend konfrontierte ihre Nachkriegsliteratur nationale Grün­dungsmythen mit konkreten sozialen Verhältnissen und entwarf ein Ge­schichtsbild, das demjenigen bellizistischer Historiker zuwiderlief. Die Parallelen in der Kriegsdarstellung sind bis ins Detail nachzuvollzie­hen. Sowohl Fontane als auch Raabe stellen Veteranen-Figuren ins Zent­rum ihrer Texte und erzählen mit Hilfe romantischer Topoi von den Gewal­terfahrungen der Vergangenheit. Jedoch gehen sie dabei unterschiedlich vor: Fontane experimentiert mit der Figur des progressiven Offiziers, der die von Veteranen repräsentierte militaristische Struktur des Kaiserreiches zu liberalisieren verspricht, hält jedoch den Bezug zur kriegerischen Vorge­schichte immer gegenwärtig. Dagegen formulieren die Erzählungen Raabes, mit Ausnahme von Deutscher Adel, eine grundsätzliche Kritik des borussischen Bellizismus, indem sie die Verletzungen, die der Krieg Solda­ten der unteren Schichten und der Natur zufügt, lesbar machen. Während Fontanes Texte zeigen, dass der nationalliberale Teil der Bevölkerung der Dominanz konservativer Militärs skeptisch gegenüberstand, ohne den Mi­litärstand per se abzulehnen, wird Raabe in den 1870er-Jahren zum Anti­kriegs-Schriftsteller. Die Befunde dieses Beitrags ließen sich in einem nächsten Schritt an­hand angrenzender Erzählwerke weiter kontextualisieren. Zu fragen wäre, wie sich Fontanes und Raabes Darstellung der deutschen Kriegsgesell­schaft zur populären realistischen Erzählprosa von Autoren wie Levin Schücking , Friedrich Spielhagen oder George Hiltl verhält, die sich eben­falls historischen und zeitgenössischen Kriegen widmet und in den Zeit­schriften der Zeit große Verbreitung fand. Darüber hinaus wäre ein Bogen zum europäischen Realismus zu schlagen, 88 entwirft doch schon Tolstoi in Krieg und Frieden ein Erzählmodell, das die Wechselwirkung zwischen Schlachtgeschehen und Kriegsgesellschaft in den Blick nimmt und damit die soziale Verarbeitung kollektiver Gewalt ins Zentrum der Darstellung rückt. Neben der literaturhistorischen öffnet die Analyse realistischer Kriegs­prosa eine systematische Perspektive auf die Darstellungsverfahren des Realismus. 89 Sie soll hier zumindest kurz angedeutet werden. Die häufig diskutierte und zuletzt von Moritz Baßler aktualisierte Frage, wie sich in den Texten des poetischen Realismus metonymische Verfahren der ›An­schaulichkeit‹ und metaphorische Verfahren der ›Verklärung‹ zueinander verhalten, erhält durch die Beschreibung von Kriegsgesellschaften eine neue Dimension. Die vorliegende Untersuchung hat gezeigt, dass Fontane und Raabe genau in jenen Momenten auf jenseits der sozialen Realität lie­gende Codes zurückgreifen, wenn es um den Krieg als Ereignis kollektiver