64 Fontane Blätter 118 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte von Gerechtigkeitssinn und positivem Recht, d.h. der Konstruktion der poetischen Gerechtigkeit. 9 In diesem Spannungsfeld positioniert Fontane zumeist ein vulnerables Individuum und sein Vergehen, das sich als Symptom einer krisenanfälligen Gesellschaft erweist und rückt so die»Wechselbeziehung von individuellem Werdegang und gesellschaftlichen Strukturen« 10 in den Fokus seiner Texte. Mit der Verschiebung von der Tat auf den Täter bzw. die Täterin werden die Entwicklung des Individuums, 11 dessen Beweggründe, seelische Disposition und kritische Selbstschau verstärkt eruiert – allerdings wird der Täter bzw. die Täterin nicht aus der Verantwortung entlassen. Die sozialkritische und täterzentrierte Perspektivierung ist in der Forschung mehrfach herausgestellt worden. 12 Zudem hat die jüngere Fonta ne -Forschung das Widerstandsrecht bei Grete Minde vor dem Hintergrund der Unrechtserfahrung und individuellen Rechtsautonomie und im Roman Vor dem Sturm das Staatswiderstandsrecht debattiert. 13 Fontanes Auseinandersetzung mit dem Recht erfolgt dementsprechend nicht primär entlang formal-juristischer Fragestellungen. Die Rechtsthematik kann bei Fontane nur dahingehend hinreichend erschlossen werden, wenn man sie auf Fontanes enormes Interesse an einer – wie es Gerhard Sprenger formuliert –»auf die menschliche Lebenswelt bezogenen Ordnung« 14 bezieht. Damit wird auf eine Ordnung abgehoben, die sich in Formen des menschlichen Miteinanders, der Alltagswelt und des individuellen Lebens spiegelt und die sich kaum ohne Normen und Gesetze konstituieren und verstetigen ließe. Die Rechtswirklichkeit geht als ein wesentlicher Teil in der Lebenswirklichkeit auf, sie wirkt als Orientierungsrahmen weitreichend in die Lebensgestaltung und Alltagsplanung. Sodann erscheint das Recht bei Fontane vor dem Hintergrund der Normen des positiven Rechts in seiner sozialen Ordnungsleistung bestimmt. In dieser erweiterten Sicht wird das Recht bei Fontane in diesem Beitrag als ein funktionales, vermitteltes Ordnungsprinzip perspektiviert, das die Organisation, aber auch die Krisenanfälligkeit einer Gesellschaftsverfassung anzeigt und diskutabel macht. Folglich ist das Recht daher weniger als spezifisches Thema oder Begriff relevant, denn als Strukturkategorie. Es geht mit anderen Worten um»übergreifende Sinn- und Geltungsstrukturen« 15 , in denen das Recht eine gesellschaftsorganisierende,-regulierende und kontrollierende Funktion einnimmt und»als Erzeugungs- und Ordnungsgrundlage für Praktiken[,] Vorstellungen« 16 und soziale Positionen dient. In der nachfolgenden Analyse wird jene spezifische Ordnungsleistung des Rechts fokussiert, die sich im Zuge der weitreichenden Strukturtransformation im 19. Jahrhundert zu Teilen entlang kalendarischer Altersangaben stiftet. Die gesellschaftspolitische und-strukturierende Dimension des Rechts ermöglicht es Fontane , auf die Problemkonstellationen der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts einzugehen und dies in einer Phase zunehmender gesellschaftlicher Verrechtlichungsprozesse, die durch rechtsförmige Regelun-
Heft  
(2024) 118
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64
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