Heft 
(2024) 118
Seite
68
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68 Fontane Blätter 118 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte Die miteinander verzahnten Prozesse der Verrechtlichung, Verzeitlichung und Individualisierung bilden das fruchtbare Umfeld für eine»Kultur der Chronologisierung des Lebenslaufes.« 31 Daneben sind noch weitere Ein­flussfaktoren anzuführen, die die Präzisierung des Alters in Form einer Zahl bedingt haben, an dieser Stelle jedoch nur rudimentär angedeutet werden können. Der demografische Wandel, insbesondere der Rückgang der Mortalitätsrate und eine allgemein höhere Lebenserwartung, bildet ein basales Moment, von dem aus sich ein feingliedriges System von chronolo­gischen Altersstufen herausbilden und funktional werden konnte. Diese fundamentale historische Veränderung der Altersstrukturen im Verlauf des langen 19. Jahrhunderts erforderte eine stärkere Ordnungsleistung durch den Staat, die gleichermaßen auf der Makro- wie auch Mikroebene vermittelnd ansetzt, d. h. die gesellschaftlichen Strukturen und die indivi­duelle Entwicklung in Beziehung zueinander setzt. Das kalendarische Alter begleitet eine Person ihr gesamtes Leben und manövriert sie durch die So­zial- und Zeitstruktur. Nicht mehr eine relativ unveränderliche stabile Le­benslage eines Individuums verbürgt die soziale Ordnung, sondern ein re­gelhafter, antizipierbarer Lebenslauf und die Abfolge fester rechtlicher Altersstatus. 32 In diesem Sinne befördert die engmaschige Struktur alters­spezifischer Regelungen die Ausbildung der numerisch-kalendarischen Gliederung des menschlichen Lebens. Jedoch ist das numerische Alter in literarischen Texten nicht nur Anknüpfungspunkt für rechtliche Verord­nungen wie im Anschluss an textlichen Belegstellen deutlich werden wird. 3. Alter im Recht Der Stechlin Fontanes Roman Der Stechlin wurde zunächst über die Jahre 1897 und 1898 in der Zeitschrift Ueber Land und Meer publiziert. Die erste Buchaus­gabe erschien im Oktober 1898, kurz nachdem Fontane am 20. September 1898 im Alter von 78 Jahren verstorben war. Bereits produktions- und re­zeptionsästhetische Altersbezüge zeugen von der Signifikanz des Alters für den Roman. Der Stechlin ist Fontanes letzter Roman, sein Alterswerk, 33 das als solches auch rezipiert wurde und wird. Die zeitgenössischen Rezensen­ten und Rezensentinnen erklärten den Roman zum Vermächtniswerk, in dem sich autobiografische Züge mit politischen Überlegungen kreuzten. Für Georg Lukács verband sich mit Fontanes betagtem Alter wie bei kaum einem anderen Autor sein künstlerisches Vermögen. Lukács zufolge be­gann Fontanes entscheidende Produktion mit dem sechzigsten Lebens­jahr, 34 dementsprechend trägt das Kapitel in Deutsche Realisten des 19. Jahrhunderts auch den Namen Der alte Fontane . Auch die jüngere For­schung verfolgte neben sozialpolitischen, philosophischen und theologi-