Heft 
(2024) 118
Seite
83
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Innstettens Angst vor dem Chinesen Siemsen 83 Zweitens: Welche Funktion und Bedeutung hat der Chinese für eine sol­che veränderte Sicht auf Innstetten? Drittens: Inwiefern ist der Chinese»ein Drehpunkt für die ganze Ge­schichte«? Innstettens Vorgeschichte erzählt Effi ihren Freundinnen im ersten Ka­pitel anlässlich seines für denselben Mittag erwarteten Besuches in Hohen­Cremmen. Effi wird diese Geschichte von ihren Eltern und wohl vorwie­gend von ihrer Mutter Luise erfahren haben. Demnach war Innstetten,»als er noch keine Zwanzig war«(EB, S. 11), in Luise verliebt. Das liegt ca. 19 Jah­re zurück, denn jetzt ist er wie Luise, mit der er am gleichen Tag Geburtstag hat, 38 Jahre alt. Er war damals Soldat in einem nahe stationierten Husaren­regiment und häufiger Besucher im Hause Belling, Luises Elternhaus. Es war unzweideutig, dass er um Luise warb und die Ehe mit ihr anstrebte. Wie Effi erzählt,»war[es] auch gegenseitig«(EB, S. 11), was ihr vermutlich Luise selbst bekannt haben wird. Dann aber stellte sich als zweiter Bewerber der ältere und gesellschaftlich wie finanziell um Einiges etabliertere Briest ein. Da war, wie Effi es erzählt,»kein langes Besinnen mehr«(EB, S. 12) und Lu­ise wurde die Frau des Ritterschaftsrates von Briest. Der zurückgewiesene Innstetten beendete daraufhin sehr zügig seinen Soldatendienst bei den Hu­saren und zog sich von Luise und aus ihrer Nähe zurück. Er studierte mit außergewöhnlichem Ehrgeiz oder wie Effi die spöttische Formulierung Briests zitiert»mit ›wahrem Biereifer‹«(EB, S. 12) Juristerei, und zwar so erfolgreich, dass er bis in die Staatsspitze auffiel, zum Protegé Bismarcks wurde und seit etwa drei Jahren Landrat in Kessin ist, was aber für ihn und auch in der Einschätzung seiner Beobachter wohl nur eine Bewährungs­und Durchgangsstation für noch höhere Aufgaben ist. 84 So weit die Vorge­schichte Innstettens, wie sie von Effi erzählt wird. Für das hier gestellte Thema ist festzuhalten: Innstetten befand sich vor ca. 19 Jahren in einem Liebes- und Beziehungsdreieck mit Luise und Briest. In diesem Dreieck musste er auf die Verwirklichung seiner Liebes- und Glückserwartungen verzichten, weil sich die gesellschaftlich eingespielten und erwünschten Ehe- und Verhaltensmuster durchsetzten Briest hatte als Bewerber um Luise die deutlich höhere gesellschaftliche Stellung und Anerkennung, und Luise stellte dieses Entscheidungskriterium für eine Ehe nicht in Frage. Innstetten reagierte auf diese frühe und wohl tief wir­kende Enttäuschung seiner Lebens- und Glückswünsche mit einer seiner­seits überaus erfolgreichen und sehr ehrgeizig betriebenen gesellschaftli­chen Etablierung. Mit diesem Status, nunmehr gesellschaftlich auf Augenhöhe, tritt er nach 19 Jahren seinen Besuch bei Luise und Briest an. Die Vorgeschichte des Chinesen erzählt Innstetten Effi im zehnten Kapi­tel. Während des gemeinsamen Ausflugs nach Effis nächtlicher Angstvisi­on vom Chinesen passieren sie dessen Grabstelle, was zum Anlass für Inns­tettens Erzählung wird. Demnach war der Chinese dem Anschein nach