Heft 
(2024) 118
Seite
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84 Fontane Blätter 118 Literaturgeschichtliches, Interpretationen, Kontexte Diener, tatsächlich aber Vertrauter und Freund eines Kapitän Thomsen, der sich nach vielen Jahren als»sogenannter Chinafahrer«(EB, S. 97) in Kessin zur Ruhe gesetzt hatte. Er kaufte das Haus, das jetzt Innstetten gehört, und lebte dort gemeinsam mit dem Chinesen und der etwa zwanzigjährigen Nina, von der nicht klar war, ob sie Nichte oder Enkelin war. Irgendwann wurde Nina dann nach der Vorstellung und dem Willen Thomsens standes­gemäß mit einem Kapitän verheiratet. Die Trauung nahm der damalige Kes­siner Pastor Trippel vor und die Hochzeitsfeier fand im oberen Saal des Hauses statt(vgl. EB, S. 92, 99), den Innstetten seit seinem Einzug unange­rührt und ungenutzt lässt. Dort tanzte Nina im Laufe des Abends auch mit dem Chinesen, und danach verschwand sie von der Feier, kam nicht wieder zurück und blieb von da an für immer verschwunden. Der Chinese aber starb vierzehn Tage später. Weil er nicht auf dem christlichen Kirchhof be­graben werden durfte, kaufte Thomsen einen kleinen Platz in den Dünen, der jetzt die Grabstelle des Chinesen ist. So weit die Geschichte des Chine­sen, wie sie von Innstetten erzählt wird, der sie seinerseits über Dritte (wahrscheinlich Apotheker Gieshübler und Müller Utpatel, die auf die Hochzeitsfeier eingeladen waren, vgl. EB, S. 99), vermutlich bei seiner Übernahme des Hauses, erzählt bekommen haben wird und selbst keine eigenen Kenntnisse des Geschehens hat. An dieser Stelle ist der Hinweis wichtig, dass der Chinese für Innstet­ten nur eine lücken- und bruchstückhaft überlieferte Figur ist, die er gera­de wegen der Leerstellen und Ungewissheiten mit dem auffüllen kann, was ihn umtreibt. 85 Das wird auch noch einmal klar in der Kürzestversion der Chinesengeschichte, die er Wüllersdorf im 28. Kapitel auf dem Weg zum Duell erzählt:»›alter Schiffskapitän mit Enkelin oder Nichte, die eines Ta­ges verschwand, und dann ein Chinese, der vielleicht ein Liebhaber war‹« (EB, S. 284). Hier wird deutlich, wie fragmentarisch die Geschichte des Chi­nesen ist, zugleich aber auch, wie groß damit der Imaginationsraum für Innstetten wird, so dass er seine Lebenskonstellationen im Chinesen wie­derfinden kann. Man kann deshalb auch mit einem aus der analytischen Psychologie entliehenen Begriff von Innstettens»Chinesen-Imago« spre­chen, seinem innerseelischen Bild des Chinesen, das, wie noch deutlich werden wird, entscheidenden Einfluss auf ihn und sein Handeln hat. 86 Für den thematischen Zusammenhang der vorliegenden Untersuchung bleibt festzuhalten: Der Chinese stand offenbar in einer heimlichen Liebes­beziehung zu Nina. 87 Durch die Heiratspläne Thomsens fand er sich in eine Dreierkonstellation mit Nina und dem standesgemäßen Kapitän versetzt. In dieser Konstellation musste er als gesellschaftlich unterlegener Bewerber auf die Verwirklichung seiner Liebes- und Glücksambitionen verzichten. Nina aber hat sich dem gesellschaftlich Erwünschten letztlich nicht gefügt. Wenn auch zu spät, nämlich am Abend ihrer Hochzeit, entzieht sie sich der von ihr erwarteten Rollenerfüllung. Dies allerdings um den Preis, dass sie