Heft 
(2024) 118
Seite
85
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Innstettens Angst vor dem Chinesen Siemsen 85 ihre gesellschaftliche Zugehörigkeit vollständig aufgeben und mit ihr bre­chen muss. Die Parallelen und Abweichungen der beiden Liebesdreiecke Innstetten Luise Briest und Chinese Nina Kapitän liegen auf der Hand. In beiden Konstellationen liebt ein gesellschaftlich wenig etablierter Mann eine Frau, die zugleich von einem gesellschaftlich überaus etablierten Dritten umwor­ben wird. In beiden Fällen auch liegt die Neigung der Frau bei dem gesell­schaftlich unterlegenen Mann. Das sind die Übereinstimmungen. Innstet­ten und Luise aber finden sich in dieser Konstellation mit den gesellschaftlich vorgesehenen Lebensmustern ab und fügen sich in deren Möglichkeiten ein. Den Schritt in die gesellschaftliche Abweichung erwägen beide nicht. Nina und der Chinese versuchen, diesen Schritt zu gehen. Nina, indem sie sich ihrer gesellschaftlich vorgesehenen Rolle entzieht und damit ihren Selbstausschluss aus der Gesellschaft vornimmt; der Chinese, indem er sich mit dem Scheitern seiner Lebenswünsche nicht arrangiert, sondern nach kurzer Zeit stirbt und sich auf diese Weise den gesellschaftlichen Zu­mutungen entzieht. Das angestrebte Lebensglück können beide damit aber nicht verwirklichen. Neben diesen beiden parallel geführten Dreierkonstellationen montiert Fontane auch das wenn man so will- literarische Ur-Dreieck Werther Lotte Albert in den Roman ein. Anspielungen hierauf finden sich gleich im ersten Kapitel. Effi kündigt ihren Freundinnen an, von Innstettens und Lu­ises Vergangenheit zu erzählen. Dabei fällt auf nicht einmal einer halben Seite dreimal das Wort»Entsagung« 88 , eine Kernvokabel Goethes . 89 Das ist als literarische Anspielung zwar noch sehr vage und anfechtbar, anderer­seits aber muss es irritieren, dass eine so bedeutungsschwere und literatur­geschichtlich aufgeladene Vokabel wie»Entsagung« zum geläufigen Kon­versationswortschatz 16-jähriger Mädchen gehören soll. Deutlicher wird die Werther-Anspielung dann aber drei Seiten später. Effi hat ihre Ge­schichte der unglücklichen Liebe zwischen Innstetten und Luise erzählt und Bertha assoziiert unmittelbar das für sie zu einer unglücklichen Lie­besgeschichte dazugehörige Selbstmordmotiv, gefolgt von der Korrektur, dass Innstetten ja offenkundig nicht Selbstmord begangen habe(vgl. EB, S. 12). Hier wird Innstetten, zusätzlich zur Chinesen-Position, auch in die Werther-Position gerückt: Wie schon im parallelisierten Chinesen-Dreieck stehen auch in dieser Parallelisierung beide Protagonisten Innstetten und Werther in Konkurrenz mit einem gesellschaftlich anerkannteren Dritten, und beide müssen auch hier auf die Verwirklichung ihrer Wünsche verzich­ten. Werther allerdings wählt den Suizid, Innstetten die Karriere. Die Werther-Allusion wird von Fontane aber vor allem und sehr viel eindeutiger auf den Chinesen übertragen und über diesen dann wieder zurück auf Innstetten, was dessen potentielle Gefährdung im damaligen Luise-Briest-Dreieck noch eine Schraubendrehung weiter dramatisiert.