Heft 1
FONTANE
BLÄTTER
1965
PETER WRUCK *
Zum Zeitgeschichtsverständnis in Theodor Fontanes Roman »Vor dem Sturm«
Seit Thomas Mann im Jahre 1910 den späten Fontane mit dem jungen konfrontiert und bemerkt hat, daß da ein Mensch alt, sehr alt werden mußte, um ganz er selbst zu werden, seitdem ist es üblich, das Augenmerk auf diese faszinierende Altersentwicklung zu richten.
Der jüngere Fontane ist ein Literat mittleren Ranges. Mit neunundfünfzig Jahren legt er seinen ersten Roman vor; in den zwei Jahrzehnten, die ihm noch bleiben, schwingt er sich zur bedeutendsten und glänzendsten Erscheinung der zeitgenössischen deutschen Erzählliteratur auf. Soweit hat es Sinn und Berechtigung, wenn man vom Verfasser des "Schach von Wuthenow“, der "Irrungen Wirrungen“ und der "Effi Briest“ gern als dem eigentlichen Fontane spricht — wiederum Thomas Mann folgend, der ein Wort Fontanes über dessen Vater auf den Dichter selbst zurückbezogen hat. Die Vorstellung vom "eigentlichen“ Fontane, die sich, namentlich auf die zeitüberdauernden schriftstellerischen Leistungen beruft und stützt, enthält indes Gefahren, denen die Fontane-Forschung wiederholt erlegen ist und deren sie noch immer nicht recht Herr werden konnte.
Hier soll nicht die Rede sein von den unablässig erneuerten Versuchen, das künstlerische Schaffen und die Lebensdokumente, zumal die großenteils äußerst kritisch gestimmten Briefe der Spätzeit, jeweils als die wahren Persönlichkeits-Zeugnisse einander entgegen zu stellen. Auch von der Kanonisierung bestimmter Werke auf Kosten anderer soll abgesehen werden, einer Praxis, die gewiß am Platze ist, wo im Interesse des Lesers eine Auswahl des Bleibenden getroffen werden muß, die jedoch der Gewinnung eines zuverlässigen, einigermaßen umfassenden Bildes von der Gesamtpersönlichkeit Fontanes, der emperischen und der künstlerischen, ebenfalls noch immer im Wege steht. Ein Roman wie „Quitt“, künstlerisch zweifellos völlig mißlungen, ist darum doch kein „Nebenwerk“; er verrät, genau betrachtet,
* Oberassistent am Germanistischen Institut dar Humboldt-Universität Berlin. Es handelt sich um einen Teil des Vortrages, der am 26. Februar 1965 in Potsdam gehalten wurde.