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Zu den besten und verbreitetsten Liedern reflektierenden Genres gehört endlich ein vermutlich älteres Lied, das Arnim in seinem „Lied des Verfolgten im Turm" und anderwärts frei verwertete:') „Gedanken sind frei." In der Umgebung Potsdams hatte es folgende Gestalt (Nachlaß 28 .^):
1. Die Gedanken sind frei,
Wer kann sie erraten?
Sie fliehen vorbei
Wie ein »nächtiger Schatten, Rein Mensch kann sie wissen. Rein Jäger kann sie schießen, Ls bleibet dabei,
Die Gedanken sind frei!
2. Und schmeißt man mich ein Im finsteren Rerker,
Dann sind es ja vergängliche Werke.
Denn meine Gedanken Zerreißen die Schranken, Brechen Mauern entzwei,
Die Mauern entzwei.
». Ich will mich nicht länger Mit Grillen rum tragen, Ich will ja das Lieben Gänzlich entsagen.
Man kann ja im Kerzen Stets lieben und scherzen; Ls bleibet dabei:
Die Gedanken sind frei!
s. Ich liebe den Wein,
Mein Mädchen für allen, Dieweil sie tut mir Am besten gefallen.
Ich geh' nicht alleine,
Zu Biere oder zu Weine: Mein Mädchen dabei.
Die Gedanken sind frei!
Bei den Liedern aus Natur und Menschenleben sahen wir den Anteil des 17. und >8. Jahrhunderts im Vergleich zu den Balladen steigen. Dazu stimmt es, wenn in der Spinnstube zu Utzdorf gar die Verse Schillers erklangen:
Ach aus dieses Tales Gründen,
Die der kalte Nebel deckt,
Rönnt ich doch den Ausgang finden,
Ach, wie fühlt ich mich beglückt I
oder eines unbekannten Verfassers gefühlsweiche Alage über die Vergänglichkeit menschlicken Glückes:
Minna, komm uin mich zu lieben,
LH der Lenz verblüht I
Denn wer weiß, ob noch ein Frühling,
Minna, für uns blüht I
An der schönen Marmorgrotte Sah ich, Minna, dich.
Vde ist mir jede Gegend,
Minna, ohne dich!
Sieh, das Blümlein dort im Tale Tau am Morgen trinkt,
Bis es unter einer Sichel Sinnlos niedersinkt.
Ebenso kürzt auch ein Morgen Unsre Tage ab: heute blühen wir und morgen Sinken wir ins Grab.
Mau erwartet nicht, unter Bauern von Marmorgrotten zu hören; auch bilden solche Lieder seltsame Nachbarschaft zu „Gs wollt ein Jäger jagen" und Ähnlichem. Aber der Volksgesang hat dieses Doppelantlitz.
') Wunderhorn 5 ,s; vgl. Bode: Die Bearbeitung der Vorlagen in des Knaben Wunderhorn, <909, S. 625 .