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teil neuerer und neuester Kunstdichtung für die Zeit um 1900 beträchtlich höher ansetzen müssen; denn gestiegen ist sicherlich der Einfluß der Schule und in den Städten der seit mehr als 100 Zähren bemerkbare Einfluß der Operette, der durch den Leierkasten (und gar das Grammophon) doch auch dem platten Lande sich abgeschwächt mitteilt. Auch vom Studentenliede her erfährt der Volksgesang immer wieder Bereicherungen. Arthur Kopp hat in Berlin sein Augenmerk auf die namentlich durch die Schule und die Studenten vermittelten, aber völlig aufgenommenen Kunstlieder gerichtet, und man erhält eine stattliche Liste, wenn man seine Mitteilungen zusammenstellt. Ich wiederhole hier nur, was auch nach meiner Beobachtung als rezipiert gelten kann: Von Goethe „Das Heidenröslein"; von Hölty „Üb immer Treu und Redlichkeit"; von Kerner „Der reichste Fürst" und „Wohlauf noch getrunken"; von Hauff „Steh ich in finsterer Mitternacht"; von Uhland „Ich hatt' einen Kameraden"; von Heine „Loreley"; dann Frz. Kuglers „An der Saale Hellem Strande" (1826); L. Rollers „Ein Sträußchen am Hute" (1825); H. Wagners „Muß ich denn, muß ich denn zum Städtle hinaus" (182^) ; W. Heys „Weißt du wieviel Sternlein stehen" (1836). Daß aber das ältere Volkslied heute ganz vergessen sei, glaube ich nicht; eine heutige märkische Sammlung dürfte im ganzen ein ähnliches Bild der Mischung älterer und neuerer Lieder ergeben, wie die jüngste wissenschaftliche Sammlung aus dem deutschen Süden, die Volkslieder aus der badischen j)falz von Elisabeth Mariage, vom Jahre 1902.
III. Das Rinderlied.
l. Selbständige Lieder und Reime.
Das Kinderlied ist heut derjenige Zweig am Baume der Volksdichtung, der noch am besten in Saft steht. Klag das Leben der Erwachsenen immer hastiger abrollen, Zeit und Lust zum Singen geringer werden; in der Kinderwelt bleibt das Bedürfnis so stark, wie es von altersher war. Noch drehen sich selbst auf den Schmuckplätzen Berlins, während rings geräuschvoll und atemlos der Verkehr flutet, die Mädchen im Kreise und singen „Klare, klare Seide". Hier gibt es auch kein Schwanken des Geschmacks: was vor Jahrhunderten dem Kinde genügte, erfreut es auch heut noch. Daß der Text mehr und mehr zersungen wird, der Inhalt dunkel und unsicher: das stört die Anspruchslosigkeit des Kindes nicht. Das Kinderlied lebt wesentlich von dem Reiz des Rhythmus, des Reimes und der einzelnen Bilder, die da an der Phantasie vorüberhuschen; daran hat das Kind sein Genügen. Vollends die das kindliche Spiel begleitenden Texte sind inhaltlich anspruchslos, wie das Arbeitslied der Erwachsenen; denn hier ist die Tätigkeit die Hauptsache.
So erklärt es sich auch, daß Lieder, die auf einer gewissen Stufe des Zersingens angelangt sind und von den Erwachsenen allmählich abgesioßen werden, als Kinderlieder noch lebensfähig sind und sich vielleicht noch lange erhalten. Man hat solch Zurückweichen von Volksliedern in den Kindergesang selbst bei ausgebildeten Balladen beob-
Vrandenburgische Landeskunde. Bd. Hl. 2^