Teil eines Werkes 
Bd. 4 (1916) Die Kultur / von Robert Mielke ...
Entstehung
Seite
196
Einzelbild herunterladen

Chamisso ein geborener Franzose war und daß Fontane einer in die Mark übergesiedelten französischen Familie entstammt, was aber ebenso eine Erkenntnis wissenschaftlicher Betrachtung und Forschung ist wie eine Tatsache der künstlerisch einfühlenden Empfin­dung, daß nämlich um nur etliche zu nennen der Schweizer Gottfried Keller, der Schlesier Eichendorff, der Tiroler Adolf Pichler, der Mecklenburger Fritz Reuter und der Schleswiger Storm echteste Repräsentanten ihres Volkstumes sind und mit den besten und höchsten Schöpfungen ihrer Muse im Volkstume, im heimatlichen Boden wurzeln, das gilt zun: mindesten auch für Kleist und ist im Rahmen dieser ersten provinzial-bran- denburgischen Literaturbetrachtung auch für die dii minorum gentium zu erweisen. Allerdings hat diese Aufgabe ihre besonderen, in ihrer Art und in diesem Maße einzig dastehenden Schwierigkeiten. Die Großstädte saugen ihre Kraft aus dem Volkstume der einzelnen Landschaften und Stämme und erzeugen dadurch und damit ein neues, in diesem Sinne nicht weniger volkstümliches Wesen, eine gewordene, nicht geborene, ge­wachsene Einheit: Berlin hat im Laufe der Entwicklung immer mehr als der Mittel­punkt eines ungeheueren Schwerkraftsystems gewirkt, in dem alles an Hoffnungen und Erfüllungen mit mehr oder weniger Berechtigung zusammenströmte. Es hat unzählige volkstümliche Nebenflüsse in sich ausgenommen und hat sie alle zusammengefaßt, so daß sich in dieser Stadt auf lange Zeit die literarische Vormachtstellung für Deutschland ver­körpert hat. Auf die Schilderung und Erklärung dieses Symptomes hat im letzten Grunde die folgende Darstellung hinauszulaufen; trotzdem oder deswegen aber wird sich auch hier der Lehrsatz als richtig erweisen, daß das Wesen der einzelnen deutschen Land­schaft nur mit Hilfe der provinziellen Literaturgeschichte ergründet werden kann. Es wird hier nicht nur vonmärkischer Sandpoesie" die Rede sein, um Hans von Bülows freundliches Scherzwort zu gebrauchen;1) vielleicht wird mancher sogar bei der Lektüre dieser Blätter erstaunt mit Kleists Großem Kurfürsten aus dem Prinzen von Homburg mutatis mutandis sagen und fragen:wo fand er den in meinem märk'- schen Sand?"

Es hat verhältnismäßig lange gedauert, bis Brandenburg an der allgemeinen deutschen literarischen Entwicklung einen, wenn auch zunächst nur bescheidenen, Anteil nehmen sollte und konnte; es war, als wenn die Wege des Werdens dieses Land meiden wollten. Aus den Pfaden des Christentums entstanden im Süden germanischen Landes die berühmten Literaturstätten, bis an die Westabhänge des Harzes rückte am Ende der althochdeutschen Zeit die schaffende Beschäftigung mit literarischen Dingen vor, sächsische Stammessagen und nordische Sagenkreise griffen wohl auf das Land zwischen der Oder und Elbe über, ohne daß sie dort aber einen märkisch gefärbten Niederschlag gefunden hätten. Die mittelhochdeutsche Zeit gruppiert sich um die Kulturstraßen des Rheines, der Donau und der Elbe, sie findet Zentren in Thüringen, in Halberstadt, Meißen und Hildesheim. Die Reformationszeit spielt sich literarisch ganz im Westen ab, und jetzt erst nimmt Brandenburg tätig Teil in Lyrik und Drama durch gebürtige oder lang dort lebende Märker. Das ändert sich nicht im und nach dem Zeitalter des großen Krieges,

1) Vgl. Bülows Briefe, Bd. 7, S. 427.