202
Ungefähr um ein Jahrhundert später als des wehrhaften und doch so „minnig- lichen" Ottos Lieder, entstanden im Berliner Stadtbuche die beiden gereimten Eintragungen, von denen die eine mit merkwürdigem Geschicke aus den inhaltlich entsprechenden Abschnitten des Sachsenspiegels (Landrecht) zurechtgeschnitten ist,1) während für die andere, die im Anschluß an die mitgeteilten Eide der Ratmannen, Schöffen, Schulzen und Büttel von der Wichtigkeit und Heiligkeit des Eides handelt, eine direkte Borlage sich nicht Nachweisen läßt.2) In einer neuhochdeutschen Umschrift lauten diese Verse folgendermaßen:
Mensche, wenn du schwörest,
Sodann du deine Seele sehr verfahrest (gefährdest)
Die dann (einst) eilet zu dem Herrn dein Und duldet Jammer und Pein.
Vas der Leichnam tut an Sünde und Schande,
Das steht der armen Seele zu Pfände.
Wann sie tritt von dem Leichnam,
So ist's ihr leid, daß sie je zu ihm kam.
Das kommt von des Leichnams Missetat,
Daß die Seele irre gaht;
Auch schreiet sie über die Stunde,
Da sie je mit dem Leichnam kam zu Bunde;
Ja, das wird von ihr sehr bekarmet (beklagt),
Bis Gott sich über sie erbarmet.
Doch will sich hier das Recht nicht enden:
Es muß sich stets mit Eiden lenden (auf Lide stützen).
Nun siehe, Mensche, eben wann du schwörest.
Daß du deine Seele nicht verführest Und daß sie komme in Gottes Hände, . wann sie heimfähret aus diesem Elende,
Auf daß dann Gott mit Lleiße Zu ihr sprechen muß: Veaits, venite!
Und Jhe, das jämmerliche Wort, von der Seelen nicht werde gehört.
O viel lieber heiliger Geist,
Der Leute Herzen du wohl weißt!
Ihre Herzen ganz im Guten stärke,
Daß ihnen folgen gute Werke vor das grämliche Gericht,
Da sie dann stehen vor Gottes Angesicht.
Dort ist ja keine Barmherzigkeit,
Sondern nur strenge Gerechtigkeit.
O, wer dann je wohl hat getan,
Der mag wohl fröhlich vor dem Richter stah'n.
1) Über die Abhängigkeit des Berliner Stadtbuches vom Sachsenspiegel vgl. die Ausgabe des ersteren von Clauswitz, 1883, Einleitung passim.
2) Herr Prof. Dr. W. Seelmann verwies mich auf die Visio Philiberti (vgl. Jahrbuch des Vereins für niederdeutsche Sprachforschung, Bd. 5 , 1879, S. 21/45) wegen etlicher, freilich sehr entfernter Anklänge in Worten und Satzbau; die genannte Visio zeigt mittelfränkische Einflüsse, was zu der Tatsache stimmen würde, daß Brandenburg eine fast reinsränkische Landschaft in ihrer literarischen Abhängigkeit darstellt. Die oben mitgeteilte Umschrift stammt aus Schwebels Geschichte Berlins, Bd. I, 1S88, S. . 2 31 / 2