Teil eines Werkes 
Bd. 4 (1916) Die Kultur / von Robert Mielke ...
Entstehung
Seite
203
Einzelbild herunterladen

203

Die Mangelhaftigkeit einer nur allzu spärlichen Überlieferung ermöglicht es nicht, die klare Linie einer ununterbrochenen literarischen Entwicklung in der Mark zu erkennen und darzustellen; unmittelbar tritt so neben die lebenbejahende Erscheinung des märkischen Regenten und den moralisierenden Bürger eine an die breite Volksmasse gerichtete, aus ihr geborene und deswegen dem Verfasser nach unbekannte Mahnung an die Ver­gänglichkeit alles Irdischen.

In architektonisch ungegliederter Breite ragt massig und wuchtig am Neuen Markt in Berlin die Turmfront der Marienkirche in die Höhe; ihr großes Portal, das zu ebener Erde diese Turmmauer gerade in der Mitte teilt, führt in eine Vorhalle, in welcher, in Menschenhöhe über dem Fußboden, hinter der Türe am Pfeiler linker Hand ein Wand­gemälde beginnt, das sich nahezu zwei Meter hoch in einer Länge von mehr als 32 Metern friesartig um die Pfeiler und Zwischenmauern bis zu der Wand zieht, die eine spätere Zutat die Turmhalle vom Langhause der Kirche trennt. Eine schlichte, handwerksmäßige Konturmalerei blickt in ernster Größe dort auf den Beschauer: von den Originalbildern deutscher Totentänze ist das Berliner das älteste, und die dazu gehörenden niederdeutschen Verse sind die älteste Berliner Dichtung.1)

1) Vgl. hierüber in erster Linie die beiden Aufsätze von W. Seelmann im Niederdeutschen Jahrbuchs Bd. 17, 1891, S. 1/80: Die Totentänze des Mittelalters; Bd. 21, 1895, S. 8 1122: Der Berliner Totentanz. Dazu noch ein kurz die Hauptsachen zusammenfassender Artikel desselben Autors in der Brandenburgia Bd. 15, S. 154/8 sowie die Reproduktion der Bilder und Wieder­gabe der Verse mit einer Übersetzung in denBerliner Denkmälern". Das, soviel ich sehe, letzte Wort in dieser schwierigen und immer im Fluß befindlichen Frage hat Anton Dürrwächter in der Festschrift für Georg von Hertling, 1913 (dargebracht von der Görres- Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaft im katholischen Deutschland) gesprochen: Die Totentanz­forschung. Dürrwächter gibt hier der Ansicht w. Fehses voneinem volkstümlich lyrischen Ursprünge des Totentanzes" entschieden den Vorzug, wenn er auchdas Totentanzdrama in seinem älteren Auftreten aus der Forschung nicht eliminieren will". Mir scheint aber gerade im Hinblick auf die oben erwähnte Eigentümlichkeit des Berliner Totentanzes in der Anordnung der menschlichen Stände und die damit zweifellos in einem inneren Zusammenhänge stehende Form des hier über­lieferten Textes der dramatische Ursprung das Natürliche und Gegebene zu sein; wie die Dinge zurzeit liegen, daßBild und Wort ihre eigene Geschichte haben" und verschiedene Entwicklungs­linien in die Tiefe früherer Epochen führen, zu den Vadomori-Gedichten ins ;2. Jahrhundert und zur literarischen Fassung der Legende von den drei Toten und Lebenden (um nur die Bildseite des Themas zu erwähnen), wenn also die Probleme nur noch komplizierter geworden sind, so scheint es mir noch nicht an der Zeit zu sein, die geschlossene Tatsachenreihe Seelmanns zu durchbrechen und aufzugeben, zumal der speziell Berliner Fall, auf den es hier zunächst ankommt, damit eben seine augenblicklich wohl beste Lösung findet. In einem anderen Punkte möchte ich mit einem bestimmten Hinweis Dürrwächters Ausführungen ergänzen. Die italienischen Trionfi des Todes sind aristokratischer Natur, welche entsprechend den Tendenzen des 44. Jahrhunderts in dieser Zeit einen Demokratisierungsprozeß durchmachten; diese ursprünglich apokalyptischen Vorstellungen nehmen ihren persönlichen Ausgang von Petrarca, dessen dichterisch geprägten Trionfi sofort von der gleich­zeitigen Malerei ausgenommen werden, so daß Petrarca auch hier eine schöpferische Rolle spielte, die auch aus andern Gebieten geistig-künstlerischer Betätigung noch viel zu wenig untersucht ist. Der örtliche Mittelpunkt war Avignon, wo der päpstliche Hof ein Zusammenströmen der ver­schiedensten nationalen Berufs- und Bildungselemente bedingte, so daß z. B. dort, um in den Möglichkeiten der Totentanzüberlieserung zu bleiben, sehr wohl spanische Aardinäle und hamburgische Gesandte durch mannigfache Berührungspunkte zur Verbreitung und Weiterbildung