Teil eines Werkes 
Bd. 4 (1916) Die Kultur / von Robert Mielke ...
Entstehung
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Die wirkungsvolle Mahnung eines solchen iVloinonto moi-i, welche täglich an die versammelten Andächtigen erging, wurde erhöht durch die Verbindung von Wort und Schrift, da das Bild auch zu denen redete, welche des Lesens unkundig oder unlustig waren.

In Norddeutschland wiesen nur die Marienkirchen zu Lübeck und Berlin Toten­tänze auf; das Griginalgemälde in der Hansestadt an der Trave freilich, das aus dem Jahre 1463 stammte, ist nicht mehr vorhanden: es wurde 1701 durch eine getreue Kopie ersetzt. Vierundzwanzig paare tanzen dort in voller Lebensgröße; in jedem ist der Tod einer der Partner, zum Zeichen, daß wir alle mit ihm zum letzten Tanze antreten müssen. Und jeden zwingt er zu dem furchtbaren Reigen: Papst und Kaiser, alt und jung, Bürger und Bauer, Mutter und Kind. So stehen ungewohnte Gegensätze der Gedanken und Formen nebeneinander, den Todesgestalten gesellen sich die Würdenträger in der Pracht farbenreicher Gewänder. Der asketischen Richtung mittelalterlicher Kirchenlehre und Kirchenübung verdanken die Totentänze ihre Entstehung und Verbreitung, aber nur selten schuf sie die Hand eines geübten, geschulten Meisters. Die Möglichkeit einer mehr handwerksmäßigen, vielfach in Zeichnung und Farbengebung dilettantischen Ausführung ward dadurch ermöglicht oder erleichtert, daß für die Gesichter der in ihrem Tanze noch einmal handelnden Menschen zwei Typen gegeben waren durch die Tradition und durch die Situation: die fröhlich grinsenden Schädel der Todesgestalten und die resignierenden Gesichter der Menschen. Die rohe Umrißzeichnung der tanzenden paare steigerte die grausige Großartigkeit des Eindruckes und der Wirkung.

Unbekannt ist, wann und wo der erste Totentanz gedichtet, gemalt oder gar ge­meißelt ward; ohne Zweifel aber hat er noch dem 14. Jahrhundert angehört. Der älteste überlieferte ist der pariser äunso waeubro vom Jahre 1425.

Das Charakteristische der Totentänze bleibt, wenigstens für die ersten Jahrhunderte ihres Vorkommens, die Vereinigung von Wort und Bild, ihre mimisch-dramatische Dar­stellung. Aber die Gleichheit des Motives, die Ähnlichkeit in der Durchführung, die Wiederkehr fast immer derselben Figuren, dasselbe Prinzip bei der Auswahl und An­ordnung der Stände, die Übereinstimmungen, die hin und wieder in den Texten zu beob­achten sind: das alles setzt voraus, daß es einmal und irgendwo einen Totentanz gegeben

dieses Ltosfes beitragen konnten. Ob nicht bei einer Durchforschung des Avignoner Kulturkreises auch für die Totentanzforschung bündige Resultate herausspringen würden?

Als Probe der Berliner Dichtung gebe ich in wortgetreuer Übersetzung die Morte des Todes zum Arzt und dessen Antwort:

Herr Doktor, Meister in der Arzenei,

Ich habe euch bereits gefordert wohl drei (mal)

Noch meinet ihr leider länger zu leben Und wollt euch nicht zu Gott begeben.

Leget weg das Glas und scheidet davon Und seht, wie wohl ich euch vortanzen kann!

Arzt: Auch allmächtiger Gott, gibt du mir nun Rat,

Denn das Wasser ist außer Maßen schlecht! Ich sollte wohl auf die Apotheke geh'n.

Denn ich seh den Tod hart vor mir steh'n;

Dagegen wächst kein Kraut in dem Garten,

Herr Jesu! wolltest du meiner warten!