Teil eines Werkes 
Bd. 4 (1916) Die Kultur / von Robert Mielke ...
Entstehung
Seite
205
Einzelbild herunterladen

205

haben muß, durch dessen Nachahmung und Abänderung neue entstanden sind. Freilich läßt das vorhandene Material keinen endgültigen Stammbaum zu; wir können nur sagen, daß der Lübecker Totentanz, bei dem Verse und Bilder gleichzeitig entstanden sind, die Wiederholung eines niederländischen darstellt und dieser wahrscheinlich nach einem französischen Vorbilde gestaltet ist, das seinerseits wieder dem sch Jahrhundert angehört. Für uns stellt jedenfalls der Lübecker Totentanz die altertümlichste Form dar.

In sämtlichen erhaltenen hochdeutschen und französischenTexten ist dasZwiegespräch zwischen Mensch und Tod so angeordnet, daß der Tod eine ganze Strophe zu dem von ihm aufgeforderten Menschen spricht; dieser antwortet dann in der folgenden Strophe. Im Lübecker Totentanz von 1463 aber und in seiner Kopie zu Reval spricht der Tod, nachdem er sieben Verse an eine Person gerichtet, im achten Verse derselben Strophe zur nächstfolgenden Person, um sie zum Tanze aufzufordern. Diese redet dann in einer acht­zeiligen Strophe den Tod an, worauf dieser in den ersten sieben Versen seiner Strophe entgegnet, um dann wieder die achte Zeile an die folgende Person zu richten. Das stimmt völlig, wie Wilhelm Seelmann nachgewiesen hat, mit dem altspanischen Danza general de l a muerte überein, was sicherlich nicht auf einem Zufall beruht. Es entsteht also die Frage, welchem Lande und welcher Zeit das Vorbild angehört. Tine direkte Ver­bindung spanischer und deutscher Städte hat nicht bestanden; dagegen weist der Lübecker Totentanz auf ein niederländisches Vorbild hin: wahrscheinlich stammt dorther das Ge­mälde, unzweideutig entstand dort der Text; in einer burgundisch-niederländischen Mode­tracht, die 1463 bereits veraltet war, erscheinen auf dem Gemälde die Stände. So gehört also das unbekannte niederländische Muster und Modell in den Anfang des 15. Jahr­hunderts. Die vorhin erwähnte Urform des spanischen Danza general weist auf ein französisches Vorbild . . . und dieser nordfranzösische Totentanz war auch der Aus­gangspunkt des niederländischen.

Es ergibt sich daher folgende Tntwicklungslinie: Der altfranzösische Totentanz ist der Stammvater des altspanischen Danza general und des Lübecker Totentanzes, aller­dings mit der Einschränkung, daß der altfranzösische Text vorausgesetzt werden muß; er gehörte dem 14. Jahrhundert an. So weist also die Form des Lübecker Totentanzes vom Jahre 1463 in eine etwa um 100 Jahre vor seiner Darstellung in Lübeck liegende Zeit zurück. In diesem Totentanzt exte handelt es sich nur u meinen Tod, während das Gemälde viele Todesfiguren aufzuweisen hat. Mit Ausnahme des Lübisch- Revaler Textes stehen Bild und Wort in Übereinstimmung. Der Text ist, wie Seelmann gezeigt hat, das Ursprüngliche; zu seiner Erläuterung wurde das Bild hinzugefügt. Freilich war es nicht möglich, im Bilde zu veranschaulichen, daß derselbe eine Tod nacheinander die Zwiegespräche hält; der Maler mußte den Ausweg ergreifen, den Tod so oft zu malen, als er spricht und dann die sämtlichen Todes- und Menschenbilder zu einem Gesamtreigen zu vereinigen. Der altfranzäsische, in der Danza general vorliegende wie der im Lübecker Totentanz vorhandene Text ist also älter wie das Gemälde und ursprünglich nicht mit einem solchen verbunden gewesen. Der alt­französische Originaltext ist nicht' mehr vorhanden; der Lübisch-Revaler Text gab ihn ge­treu wieder, denn das französische Original muß dieselbe Form wie die Lübisch-Revaler Dichtung und die spanische Danza general gehabt haben. Noch eins aber ist hervor-