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zuheben: Die alte Totentanzdichtung war dramatisch; die älteste Form des Totentanzes, wie sie in mittelniederdeutscher Übersetzung in dem Lübisch-Revaler Texte vorliegt, ist ursprünglich ein Drama gewesen; die-in Frankreich entstandene Dichtung ist auf dem Wege über die Niederlande um 1463 nach Deutschland gekommen. Ursprünglich war dieses Drama zur Ausführung von Geistlichen bestimmt.
Es ergibt sich also die Tatsache, daß die erhaltene Lübisch-Revaler Totentanzdichtung die Übersetzung einer altfranzösischen, für die szenische Wiedergabe bestimmten Dichtung des 14. Jahrhunderts ist.
Der alte Totentanz bestand aus Strophen, die keine Entwicklung eines Gedankens, nur eine eintönige Variation desselben Grundmotives bieten: jeder wird vom Tod ergriffen, jeder bereite sich durch gute Werke auf ihn vor und erfülle die Pflichten, die sein Beruf ihm auferlegt. Im Spiele vom Totentänze tritt der Eindruck, welchen der Dialog auf den Zuschauer macht, zurück gegen den, welchen die Mannigfaltigkeit und der Wechsel der Kostüme auf einen naiven Zuschauer ausüben mußte. So waren die Worte des Dialoges fast nur Erläterungen der Gewänder, des Äußerlichen der Figuren, waren aber nie dazu bestimmt, irgendwelche Deutungen des Tharakters zu geben. Vielleicht ist sogar der Totentanz ursprünglich als Tableau dargestellt worden, die Rollen waren also stumm; den Schritten des Reigens entsprechend, wurde dann der für ihn bestimmte Text strophisch abgefaßt: so ist der Totentanz durch lchnzufügung eines Textes aus der primitiven Kunstform des Tableaus entstanden. Auf jeden Fall aber war die Gestalt des Todes für die übrigen Figuren die wirksamste Folie; so bot der mittelalterliche Totentanz, der sich aus verschiedenen Quellen recht eigentlich in Deutschland zu de» typischen Beispielen entwickelt hat, eine allegorische Todesfigur mit lebenden Menschen, die durch den Tanz dem Grabe zugeführt werden, wann und wo nun der Berliner Totentanz — um dieses wichtige Denkmal in die Entwicklung seiner Aunstform einzuordnen, waren diese etwas weiter ausholenden Andeutungen nötig — hergestellt worden ist, darüber fehlt jede urkundliche Nachricht; ja, er wird vor 1721 nicht einmal erwähnt. Die Baugeschichte des Turmes der Marienkirche ergibt nur, daß er nicht vor dem 15. Jahrhundert gemalt sein kann. Wohl schon im Laufe des 16. Jahrhunderts wurde er mit Kalktünche überstrichen und erst im Jahre 1860 wieder entdeckt, worauf dann der bekannte Kunsthistoriker Wilhelm Lübke die Gemälde untersuchte und restaurierte, die jetzt gut erhalten sind und deren Schrift deutlich zu lesen ist. Ein Totentanz muß nun die Quelle des Berliner Dichters gewesen sein, der einerseits selbst eine Nachahmung des alten Lübecker Totentanzes war, andererseits das Vorbild für den aus ihm entlehnenden Berliner und den gleichfalls ihn benutzenden jüngeren Lübecker Totentanz vom Jahre 1520 war. Dies uns unbekannte Vorbild muß all das geboten haben, was das Berliner Denkmal Übereinstimmendes mit dem alten und auch mit dem jüngeren Lübecker Totentänze enthält. Zu beobachten ist auch eine typische Gleichartigkeit des gemalten Reigens in Berlin und Lübeck (1463); nur bietet Berlin die vereinfachte Form des Zwiegespräches: der Tod redet die einzelnen in je sechs Versen an, und diese antworten in ebensoviel Zeilen. Das zu rekonstruierende Vorbild muß in einer Stadt vorhanden gewesen, die mit Lübeck und Berlin kirchliche und kommerzielle Beziehungen im Mittel- alter unterhalten hat. Der auf dem Berliner Bilde den Prolog sprechende Prediger ist '
