Teil eines Werkes 
Bd. 4 (1916) Die Kultur / von Robert Mielke ...
Entstehung
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lebendig war ... die Stadt des Marquis de Brandebourg war zur Residenz Kaiser Will^elm I. geworden ... das war ein Symbol und eine Pflicht zugleich!

Die Kennzeichnung der geistigen Struktur der für die literarische Entwicklung hier­in Frage kommenden Kreise und Kräfte bedarf an dieser Stelle, in den Jahren nach des Reiches Gründung, zunächst eines kurzen rückwärtsschauenden Blickes. Die napo- leonischen Kriege hatten die Deutschen unsanft aus den romantischen Träumereien auf­gerüttelt und ihren bürgerlichen Selbständigkeitsdrang geweckt; eine energische, erfolgreiche Betätigung der Bürger verhinderte zuerst aber noch das Mißtrauen der Fürsten, so daß sich beste geistige wie seelische Kräfte an nützlichen, Anschauung und Blick weder ver­tiefenden noch erweiternden Aufgaben des täglichen Lebens verbrauchten oder in uto- pistischen N)ahngebilden, öden Nachblüten der Romantik sich verflüchtigten. Dichter wie Hebbel, Ludwig, Richard Wagner fanden in dem vierten Jahrzehnte des vorigen Jahr­hunderts für die Schöpfungen ihres aus diesen Gründen tragischen Wirkens kein wahres Berständnis. Nach der 48er Revolution erntete die Früchte zum zweiten Male die Reaktion: der von ihr begünstigte Zuwachs an Nationalreichtum durch Handel und Industrie führte die erschlaffte Generation zu einer bis dahin in Deutschland unerhörten geistigen Verflachung. Die Wissenschaft galt so viel, als sie die Technik förderte, die Kunst war gut genug zum Amüsement ; wo das Bedürfnis nach umfassenderer Orien­tierung über Sinn und Ziel des Daseins noch nicht ganz erloschen war, stürzte man sich der Naturwissenschaft in die Arme, die um die Mitte des Jahrhunderts in unver­gleichlicher Weise auf neuen Wegen neue Resultate fand, wobei der Wechselverkehr mit der Maschinentechnik und mit den neuen Aufgaben fördernd und ausschlaggebend war, die wachsender Verkehr und verfeinerte Lebensbedürfnisse des Menschen an die Be­wältigung der Natur stellten. Gerade diese materielle Wertung aber ließ das Nächst­liegende, Interessen und Werte des Alltags eine übermäßige Geltung gewinnen;an die natürliche Rückwirkung des Aufblühens deutscher Industrie, an die Konkurrenz und an die notwendige Sicherung des deutschen Marktes durch staatliche Machtmittel dachten die wenigsten, trotz des Abbruches mancher Zollschranken". Dieneue Ara" fand einen harten Boden vor: gegen den Willen des Parlamentes hat die preußische Regierung die unentbehrlichen Vorbereitungen für die großen Entscheidungen der Zukunft getroffen, und der Juli 1870 fand ein noch wenig vorbereitetes Geschlecht: die großen Kulturinteressen des Volkes, die damals doch auf dem Spiele standen, vermochten ganz im Gegensätze zu unserer Gegenwart! an sich wenig Heroismus auszulösen, und die Motive von damals waren zum weitaus größten Teile religiöser, patriarchalischer, moralischer Natur. Es war dann eine notwendige Folge, daß das plötzlich und nicht unter Selbst­erziehung und Kulturarbeit hochgekommene und reich gewordene deutsche Volk die Früchte des Sieges zunächst in einem Taumel genoß, der zu dem Zusammenbruch von f873 führte. Schamloses Gründertum zeigte sich auf der einen Seite, Massenelend auf der anderen ... der Arbeiter wurde durch das Beispiel der mühelos reich Gewordenen zur Genußsucht verleitet, und zugleich erwuchs aus der grenzenlosen politischen Unbildung ein völliges Mißverständnis der gemeinsamen sozialen Ziele und der politischen Kampf­mittel auf beiden Seiten.