Teil eines Werkes 
Bd. 4 (1916) Die Kultur / von Robert Mielke ...
Entstehung
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Unter solchen Verhältnissen hatte sich im gebildeten Ulittelstande jene Welt­anschauung festgesetzt, die der wirkliche Ausdruck seiner Überzeugungen und Hoffnungen war. Die Mitte des Jahrhunderts hatte große, für eine moderne Weltanschauung wichtige und grundlegende «Entdeckungen gezeitigt, die Philosophie wie Theologie aus Furcht und Trägheit zunächst verleugneten und befehdeten; ein Taumel platter Aller- weltsaufklärerei war darum die nächste Folge. Das Gesetz von der Erhaltung der Energie und die Entwicklungslehre machten es möglich, die Naturvorgänge möglichst lückenlos aufeinander zu beziehen und die Scheidewände zwischen Mensch und Tier nieder­zulegen. Aber die Sucht zu kompinieren und zu verallgemeinern führte zu solchen Beispielen des Mangels jeglichen wissenschaftlichen Gewissens wie Büchners Araft und -tosf; gleichzeitig dachte Feuerbach die Gedankenreihen Layle-Stendhals zu Ende, wie D. Fr. Strauß diejenigen Voltaires. Vollendet wurde die Materialisierung des Denkens durch den letzten Nachzügler der konstruktiven Hegelschen Geschichtsbetrachtung, durch Aarl Marx; hier galt weder Hegels Satz, daß Männer die Geschichte machen, noch der Glaube, daß sich auch im öffentlichen Leben der Geist den Aörper baue: die jeweilige wirtschaftliche Lage, die Entwicklung des Verhältnisses zwischen Arbeitgebern und Arbeit­nehmern, zwischen Angebot und Nachfrage bildet die weite und breite Basis, auf der sich ein juristisch-politischer überbau erhebt und der bestimmte gesellschaftliche wie wissen­schaftlich-künstlerische Erscheinungen entsprechen. Herders Alimalehre erhielt so eine materialistische Umbiegung und H. Taine hat bekanntlich mit persönlicher Energie und sachlicher Wirkung solche Lehren auf die Betrachtung der Aunst übertragen. Me ein Arzt, der das Leben des hinsiechenden Patienten mit tiefstem theoretischen Interesse beobachtet, bei dem aber das Menschliche nicht über ein sich höchstens flüchtig regendes Mitgefühl hinauskommt, beschreibt Aola den Degenerationsprozeß der Nougon-U lacquarts mit umständlichster Genauigkeit, mit sorgfältigster Verknüpfung der Einzeltatsachen nach dem Aausälitätsgesetze; die moralischen Werte und Gesichtspunkte kommen für ihn nur in so weit in Frage und in Betracht, als sie die gefühlsmäßige Auffassung gewisser sozialer Grundmotive befördern, denn das Aunstwerk ist nach dem bekannten Worte, das auch hier und an diesem Punkte der Entwicklung nicht fehlen darf,eine Ecke der Wirk­lichkeit, gesehen durch ein Temperament". Das letztere wird zu dem ursprünglichsten Bestandteile der menschlichen Individualität, denn hier kann eine Verantwortung ja fast völlig ausgeschaltet werden, mit der Feststellung der hier herrschenden tatsächlichen Ver­schiedenheiten zwischen den Menschen ist von vornherein kein Werturteil verbunden. Er­scheinungsformen des menschlichen Willenslebens, die sich einem sittlichen Aweckbegriffe unterordnen, scheiden bei den Dichtern naturgemäß aus, die nach Art der Natur­forscher erklären und um Ibsens berühmtes Selbstbekenntnis zu zitieren nicht richten" wollen. In dieser Ärmst, in solchem künstlerisch erhöhten und geformten Abbilde menschlicher Beziehungen und Vorgänge ist der sittliche Wiche höchstens ein schöner Traum, etwa ein Vorurteil, worin Vererbung und grenzenlose Assimilations- sähigkeit und -Notwendigkeit die individuelle Sonderart theoretisch widerlegen oder praktisch unwirksam machen, wo soziale Verhältnisse die Triebe, Aräfte und Leidenschaften erregen, die nun ihrerseits zerstören, was das Milieu an Selbständigkeit des Wesens etwa noch übriggelassen hatte.