3^7
die Natur mehr als ein wiederkäuendes Ungeheuer? Und woher dann die ethischen 'Kräfte, der Drang nach Freiheit, die Sympathie mit dem durch die sozialen Verhältnisse zum Märtyrertum berufenen vierten Stande? Diese Differenz zwischen wollen und Können, diese in der Natur der Dinge und Menschen liegende, in Ewigkeit gegebene Antinomie war der tragische Unterton; daß die deutsche Literaturbewegung des Naturalismus sich über die Ergebnisse der Wissenschaft zu erheben suchte und das Leben mit seinen Konflikten von einer höheren warte ansehen und beurteilen wollte, daß diese Auseinandersetzung zumeist im Drama erfolgte: darin liegt das tiefe Ethos, das sie von dem französischen und zum Teil auch von dem skandinavischen Naturalismus unterscheidet. Der deutsche Naturalismus aber — das muß auch hier prinzipiell hervorgehoben werden, so sehr das auch anscheinend über die sachlichen und formalen Grenzen dieser Arbeit hinausreicht — berührt sich mit dem französischen in dem sorgfältigen Studium des Milieus, mit dem skandinavischen in der mutigen Bekämpfung gesellschaftlicher Vorurteile, mit dem russischen in dem starken Mitgefühl für die Enterbten und Ausgestoßenen; er ist aber doch wieder ein Gewächs für sich durch die ihm eigentümliche Verschmelzung von treuer Beobachtung der Wirklichkeit, folgerechter Beurteilung des Befundes unter dem Gesichtspunkte des deterministischen Pessimismus und entschieden weltschmerzlicher, bald sentimentaler, bald hochpathetischer Darstellung der so erkannten und beurteilten Welt. Dem unbedingten Pessimismus aber wirkten doch andere Elemente entgegen, nicht die eigentlich religiöse Hoffnung im Sinne des Thristentumes wie bei Tolstoi oder im Sinne der Mystik wie bei Ibsen. Und die Entwicklungslehre selbst zeigte ja die Welt erfüllt von vorwärtsdringenden Kräften, die fortwährend höhere werte erzeugten. Sie schloß einen Gottesbegriff nicht aus, wie Häckels Hinneigung zu Spinoza zeigte, die strenger monistisch war als die Goethes, weil sie mit der Ausschaltung der persönlichen Gottheit rückhaltlos Ernst machte; hier war also eine Hoffnung vorhanden für die Gattung, andererseits aber keine Aussicht für die Befreiung der Persönlichkeit, worauf eine Generation nicht verzichten konnte, die soeben den diametralen Gegensatz des deterministischen Pessimismus in der llbermenschenmoral Nietzsches hervorgebracht hatte.
Die Jünger Häckels, Wilhelm Bölsche und Bruno Wille, die Gebrüder Hart und Gerhart Hauptmann — um nur die zu nennen, für deren Schaffen ganz oder teilweise Berlin der äußere und vielfach auch der innere Mittelpunkt war — standen so zwischen zwei Feuern: auf der einen Seite mußte in ihnen der neue Individualismus die Sehnsucht nach einem Herrendasein im Sinne der Renaissance wecken und stärken; auf der anderen Seite war ihnen mit demselben Naturalismus, der sie von so manchem hemmenden Vorurteil befreit hatte, die Gewißheit von der Relativität und Wertlosigkeit des Individuums in Fleisch und Blut übergegangen. Dieser Generation ist etwas von der „intellektuellen Redlichkeit" Lessings nachzurühmen, wenn sie den Gegensatz zwischen universalistischem Glaubensbekenntnis und individualistischem Herzensdrange nicht vertuschte, sondern — nach Art und im Sinne Goethischer Gelegenheitsdichtung — als Kunstwerk aus sich herausstellte. Diese ästhetische Gestaltung wäre nicht möglich gewesen, hätten nicht wenigstens die führenden Geister die Aussichtslosigkeit solcher Widersprüche durch den phantastischen Aufschwung in ein fernes Traumreich überwunden, wo die individuelle Forderung und die generalisierende Erfahrung sich miteinander aussöhnten.