Teil eines Werkes 
Bd. 4 (1916) Die Kultur / von Robert Mielke ...
Entstehung
Seite
348
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Die materialistische Weltanschauung als solche kann wohl in sich beruhen bleiben; die ihr entsprechende naturalistische Dichtung aber, die nur auf Grund einer künstlerischen Be­wältigung der gegebenen Tatsachen existieren kann oder eben keine Dichtung ist, wird notwendigerweise immer ihr Gegenstück, die romantische Traumdichtung, also im letzten Grunde und Sinne eine Neuromantik, nach sich ziehen, und je ernster und schärfer die negative Dichtung den ganzen Kreis der Realität durchmißt und verarbeitet, um so mehr wird ihr positives Gegenstück zu Phantastik und zu symbolischen Ausdrucksmitteln ge­drängt werden: das ist, auf eine Formel gebracht, die Entwicklung deutscher Dichtung seit des Reiches Gründung bis in die Schicksalstage des neuen Deutschland, eine Ent­wicklung, an der das geographische wie geistige Zentrum der Mark Brandenburg einen ganz besonderen, weil ausschlaggebenden Anteil hat.

Den Abergang, zu dem Berlin des Kaiserreiches kann am besten in literarischer Beziehung Friedrich Spielhagenh bilden, dessen geschichtliche Stellung darin besteht, daß er den allzu breiten Zeitroman des Berliners Karl Gutzkow modernisiert, und ein neues Zeitmaß in die Erzählung gebracht hat; der gebürtige Magdeburger hatte seine Zugend­jahre an der pommerschen Küste verlebt und dann die preußische Hauptstadt so gefunden, wie er sie erwartet und erhofft hatte:Ich hatte Berlin mit so großer Spannung entgegengesehen, meine Erwartungen so hoch gesteigert, daß eine Enttäuschung unvermeidlich schien; sie trat keineswegs ein. Nach einigen Tagen stand bei mir fest: dies ist der völlig geeignete Drt; hier kannst du dein Selbst in deinem Sinne bewahren, d. h., zu einer höhe steigern, die du freilich nicht zu berechnen vermagst, für die du aber in deiner Ahnung eine sichere Gewähr hast. Die zum Teil unabsehbar langen Straßen, die weiten Plätze, die Pracht so vieler Gebäude, die Menge, das Gewimmel der Menschen das alles mutete mich wundersam an. hier pulste der Wille zum Leben in leiden­schaftlicher Kraft, für die ich einen Maßstab zu haben glaubte in der Lebensleidenschaft, die immer in mir gewesen sein mußte und mir jetzt nur zum Bewußtsein kam." Mit solchen Worten der Heldin in. dem Tagebuchroman Frei geboren, einem feinen Alters­werke, spricht Spielhagen gewiß eigene Meinungen und Stimmungen aus. Lange aber vor diesem Abschiedsgruß wurzelte Spielhagen in seiner Kunst auf Berliner Boden: am Schlüsse der problematischen Naturen H86I/62) stieg der innerlich recht zweifelhafte Held Oswald Stein auf die Barrikaden des März H8H8?) Zn Reih und Glied schilderte nach der bürgerlichen die proletarische Bewegung und in Leo Gutmann eine dichterische Nachbildung Lassalles, der, Gast der Aristokratie wie Führer der Arbeiter, in dieser adlig-sozialistischen Zwiespältigkeit einst ein Bewohner Berlins gewesen war. Stark betont war bei Spielhagen die liberale Richtung, der Kampf für Verfassung und Volks­rechte, gegen Absolutismus, Standesvorteile und Standesvorurteile, gegen kirchlichen und polizeilichen Druck; freilich hat diese Einseitigkeit der Parteinahme Spielhagens Zeit­romane um jenendauernden Gehalt an Lebenstreue" gebracht, den die Darstellungen von Willibald Alexis aus der älteren preußischen Zeit besitzen.

tz vgl. V. Rlemperer, Die Zeitromane Fr. Spielhagens und ihre Wurzeln. Forschungen zur neueren Literaturgeschichte, Bd. HZ, tyzz, Seiten.

2) Hierher gehört in stofflicher Beziehung der fast gleichzeitige Roman von !V. Tornow, Das alte und das neue Berlin: Z. Berlins erste Barrikaden; 2. Berlins letzte Barrikaden; aus den, Jahre mss.