Teil eines Werkes 
Bd. 4 (1916) Die Kultur / von Robert Mielke ...
Entstehung
Seite
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Die Literatur der gehetzten und kulturfeindlichen Gründerzeit blieb in allen Be­ziehungen an der Gberfläche; Ernst von Wildenbruch hat mit einem kritischen Gelegen­heitsworte aus dem Ende der siebziger Jahre scharf, knapp und treffend die Ursache jener verflachenden Wirkung aufgezeigt:Was ist der Grund, warum die modernen Franzosen so viel mächtiger zunächst auf der Bühne wirken als die modernen Deutschen? Zst es nur die vollendetere Form oder die ausgearbeitetere Technik und Wache? Der Grund liegt vielmehr darin, daß in den französischen Stücken der Puls der Leidenschaft ein ganz anderes Tempo geht als in den modernen deutschen, daß diese Franzosen im Augenblick, wo sie schreiben, an das glauben, was sie schreiben. Das fühlt man, und das überzeugt; und das fühlt man bei den modernen Deutschen nicht, und darum überzeugen sie nicht." Die Herrschaft des französischen Dramas und seiner minder glücklichen Nachbildungen und Nachahmungen auf führenden Bühnen Berlins, der stark französische und noch stärkere jüdische Einschlag im Feuilleton der großen, zum Teile neu gegründeten Berliner Zeitungen: das waren zwei Erscheinungen, die Hand in Hand gingen und die auch weiter zu wirken begannen; bis in die Verspoesie ergoß sich der seichte Fluß der Pseudodichtung, der die Gattung des Romanes längst ergriffen hatte: die Epen von Julius Wolfs, der bald nach dem Kriege 187 > in Berlin zugewandert war, waren schließlich nichts weiter als gereimtes, hohles, aufgeputztes Feuilleton! Paul Lindau brachte als erster von Paris aus den neuen Zug, scharf ausgeprägt in persönlicher Eigenart und literarischer Note in das schriftstellerische Bild Berlins; der Geist der Gründerperiode fand dann in Mskar Blumenthal, dem gebürtigen Berliner, in Kritik und in für die Bühne bestimmter Produktion eine auch noch weiter wirkende Ver­körperung?) Es war von üblem Einfluß auf die Berliner literarische Entwicklung, daß der immer vorhanden gewesene jüdische Anteil und Einschlag in diesen trüben und doch auch gärenden Jahren nicht von dem vornehmen Judentum der Alt-Berliner Zeit ausging, wie es die Mendelssohns und die Salons verkörpert hatten, sondern von einem neuen, das stadtfremd und dem eingeborenen märkischen Geiste zuwider Literatur und Leben zu erobern und der Zeit den Ton anzugeben suchte und strebte. Ls hat an Spott über diese neue Zeit mit ihren neuen Menschen nicht gefehlt; Fritz Mauthner fand sehr bald den rechten Ton für die persiflierring der beginnenden Sensationssucht, zumal der Presse; der Berliner Roman freilich gelang ihm ebenso wenig wie sich Paul Lindau vergeblich mit diesem weitschichtigen Probleme abgequält hatte. DessenZug nach dem Westen" wurde zwar als Schlagwort der Zeit fast sprichwörtlich; vom wirklichen Leben der Hauptstadt aber mit der Vielgestaltigkeit seiner Probleme und Kontraste, mit der Fülle seiner Menschentypen und Gesellschaftsschichten war hier nichts zu spüren, und auch Mauthner hatte in seiner Roman-Trilogie Berlin W und Hugo Lubliner in seiner unvollendet gebliebenen Romanfolge Berlin im Kaiserreiche diese Aufgabe, die einen Zola

*) Blumenthal, der seit 1875 dauernd in Berlin lebt, wird von R. M. Meyer mit dem Pinnemann in w. Raabes Drei Federn verglichen; dort heißt es auf S. 81: Seiner Meinung nach ließ es sich so gut und leicht und angenehm in der Welt leben, wenn man nur deu geringsten guten Willen dazu mitbrachte. Er selbst war ein lebendiges Beispiel, die vortrefflichste «tsmon- strutir) ooulos davon. Wie der Mensch aus Nichts etwas werden könne, bewies er glänzend; Bescheid zu wissen, war alles, was man brauchte, um jedem Schicksale gewachsen zu sein.