— 36H —
Wenn am Ende dieser Betrachtung der Berliner Roman in den letzten Etappen und Formen seiner Entwicklung noch zu schildern ist/) so ist dabei nicht zu verkennen, daß die Weite und Tiefe der von Fontane geschaffenen epischen Weltbilder märkisch-berlinischen Gepräges so bald nicht wieder erreicht wurden. Noch fehlt jetzt dem Städtegebilde an der Spree und dem Lande ringsumher der volkstümliche Renner und Schilderer der Höhen wie Tiefen, als welcher Dickens einst sich für London erwies, es fehlt der Betrachter und Gestalter seiner feinsten wie gewaltsamsten Regungen und Bewegungen, wie sie Flaubert seinem Paris ablauschte oder wie ihnen Johannes V. Iensen für die Stadtzentren Amerikas das Gepräge gab.
Der Schöpfer des wirklich realistischen Berliner Romanes war Max Rretzer, ein gebürtiger posener, der in dem mitlaufenden Schwarm von jungen Intelligenten, wie sie sich Ende der siebziger Jahre um die Hauptwortführer der Berliner Arbeiterbewegung versammelten, als stiller Beobachter und nur gelegentlicher Teilnehmer an den lebhaften Debatten zuerst aufsiel. Aber die Ronflikte der Ausnahmegesetzezeit hob Aretzer dann sein Rönnen hinaus: von 1,880—1883 gestaltete er das Problem der Zeit, die soziale Frage in „Die beiden Genossen", „Die Betrogenen", „Die Verkommenen". Von Anfang an aber war Rretzer bemüht, über die Parteigegensätze hinweg sich für die Stiefkinder der Gesellschaft einzusetzen, die in dem wilden „Rampfs aller gegen alle" untergehen; in dieser Periode der sozialen Neuorientierung war er um so mehr zu solchem Vorgehen berufen, als er Fühlen, Denken, Leiden und Sehnen solcher Tiesschichten aus eigener Erfahrung und Anschauung kannte. Er schuf sich für seine epischen Schöpfungen sehr rasch eine Form von zwingender Rühnheit, einen von stärkstem Wirklichkeitsempfinden durchdrungenen Romanstil, der wohl manchmal der subtilen akademischen Glätte ermangelte, dafür durch wahrhaft elementare Großzügigkeit unmittelbar packte und wirkte. Der „erste große Arme-Leute-Maler der Romanliteratur", wie ihn Rarl Lamprecht genannt hat, war der Entdecker und Schilderer eines neuen Berlin, ein Wegbereiter des deutschen Realismus, der von Zola die Wucht, von Balzac die Geschlossenheit und von Dostojewski die Feinheiten der Zeichnung hatte, ohne allerdings den einen oder anderen völlig zu erreichen. Dabei wuchs Rretzer aber in seinen besten Wecken über eigentliche sachliche oder formale „Richtungen" völlig hinaus: „Meister Timpe" fl 888) oder „Die Bergpredigt" (l88h) gehören zu jenen Wecken der deutschen Romanliteratur, die über landschaftliche oder städtische Momente hinaus Marksteine der Entwicklung bedeuten. Die „Revolution der Literatur" in den neunziger Jahren hat stofflich und technisch Max Rretzer sehr viel verdankt; er hat dann weiter Probleme aller Art in den Rreis der Darstellung und Betrachtung gezogen, psychologische, pädagogische, juridische — „Der Millionenbauer", „Die Buchhalterin", „Der Holzhändler", „Der Mann ohne Gewissen", „Was ist Ruhm?" —; immer aber hat er den sozialen Einschlag betont und ihn im „Gesicht Thristi" fs8h7) ins Symbolische hinaufgesteigert, als er die Gestalt des Erlösers mitten in die graue Welt des Proletariates hineinstellte.
Alle Schichten und Weiten des Berliner Lebens wurden nun von dem jüngeren
tz vgl. darüber P>. A. Merbach, Der Berliner Roman; eine Skizze seiner Entwicklung in Groß-Berliner Kalender S. I?o/ 8 ; h. Sxssero^, vom Berliner Roman; in: Germanisch-
Romanische Monatsschrift lAiH, Sahrg. s, S. 2;2/y.