Druckschrift 
Geschichte der Juden in Berlin und in der Mark Brandenburg / von Eugen Wolbe
Entstehung
Seite
192
Einzelbild herunterladen

Der Torschreiber zu seinem christlichen Kollegen:Ich denk, wir lassen ihn passieren.

Rabbiner Frankel läßt ihn ein paar Silbergroschen wöchentlich durch Schreibarbeit verdienen und besorgt ihm Freitische bei wohlhabenden Gemeindemitgliedern.

Knapp reicht das Geld aus. Der jungeBochur muß sich die tägliche Ration durch Bleistiftstriche auf dem Brot einteilen. Fleißig lernt er: bei Fränkel Talmud und Maimo- nides Mischne Thora; Mathematik, klassische und moderne Sprachen bei Freunden strebsamer Jugend. Selber noch ein Lernender, vermag er das erworbene Geistesgut bereits weiterzugeben, als ihn der Berliner Seidenwarenfabrikant Isaak Bernard zur Erziehung seiner Kinder in sein Haus nimmt. Einundzwanzigjährig, tritt er als Handlungsgehilfe bei Bernard ein. Umfassende Kenntnisse, Freizeit und wirt­schaftliche Unabhängigkeit gewähren ihm nunmehr die er­sehnte Möglichkeit, sich auf dem Wissensgebiet auszuleben, das fortan seine ureigenste Domäne werden sollte: Philo­sophie. Nachmittags erholt er sich von der nüchternen Berufsarbeit bei einer Partie Schach in einem Kaffeehause am Molkenmarkt. Hier findet sich auch ein Altersgenosse ein, der die nämliche geistige Erholung liebt: Gotthold Ephraim Lessing.

Von Haus aus Theologe, war Lessing ein Wahrheits­forscher, zugleich ein unerschrockener Kämpfer für Auf­klärung und Geistesfreiheit. Seitdem die englischenMora­lischen Wochenschriften blindem Autoritäts- und Aber­glauben, pfäffischer Bevormundung, religiöser Unduldsam­keit und ständischer Überheblichkeit den Fehdehandschuh hingeworfen hatten, erblickte auch Lessing seine Lebensauf­gabe in dem Streben nach Hinaufentwicklung zu einem ab­geklärten, edlen, freien Menschentum. In dieser Auffassung wußte er sich eins mit dem philosophisch eingestellten jüdi-

192