Unterdrückung hatte die Juden scheu und mißtrauisch gemacht.
Wie Mendelssohn als Kind der „Aufklärung“ einer „natürlichen“ Religion der Vernunft das Wort redete, so stempelte er auch das Judentum zu einer Religion ohne Dogma. Die damalige Judenheit wurde stutzig über seine Kennzeichnung der Vernunftwahrheiten und Verstandesbegriffe als des Höchsten, was der Mensch an religiösen Werten braucht, und fragte sich: Wofür haben wir Jahrtausende gekämpft? Warum haben wir unter den größten Schwierigkeiten die religiösen Gesetze beobachtet, wenn der Verstand sie ablehnt? Für die „Religion der Vernunft“ sind wir wahrlich nicht in Not und Tod gegangen, sondern für die gottgeoffenbarte, zum Gemeingut der gesamten Menschheit bestimmte Lehre! Unsere Auserwähltheit ist unser Stolz, unser Glück — will Mendelssohn dies unser Eigenes verwischen?
Nimmermehr. Mendelssohn war von der Göttlichkeit, d. h. der von Gott durch Mose am Sinai geoffenbarten Wahrheit des Judentums wie von der im Talmud überlieferten mündlichen Auslegung überzeugt. Judentum bedeutete für ihn nicht geoffenbarte Religion, sondern geoffen- barte Thora.
Religion beurteilte dieser Philosoph nur nach ihrem Einfluß auf das sittliche Handeln ihrer Bekenner. Hierin stand ihm das Judentum an erster Stelle, weil es beim Glauben Israels nur auf die rechte Tat ankommt: Liebe und Gerechtigkeit sind das Primäre; Denken, Erkenntnis und Glauben ergeben sich erst aus dem sittlichen Handeln. „Der rechte Glaube tritt als Folge tätiger Gesetzesbeobachtung ein, nicht als ihr Grund.“ Ohne Gottesglauben keine Tugend. „Ohne Gott und Vorsehung und künftiges Leben ist Menschenliebe eine angeborene Schwachheit, und Wohlwollen wenig mehr als eine Geckerei, die wir uns einander einzuschwatzen
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