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Geschichte der Juden in Berlin und in der Mark Brandenburg / von Eugen Wolbe
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Unterdrückung hatte die Juden scheu und mißtrauisch ge­macht.

Wie Mendelssohn als Kind derAufklärung einer natürlichen Religion der Vernunft das Wort redete, so stempelte er auch das Judentum zu einer Religion ohne Dogma. Die damalige Judenheit wurde stutzig über seine Kennzeichnung der Vernunftwahrheiten und Verstandesbe­griffe als des Höchsten, was der Mensch an religiösen Werten braucht, und fragte sich: Wofür haben wir Jahr­tausende gekämpft? Warum haben wir unter den größten Schwierigkeiten die religiösen Gesetze beobachtet, wenn der Verstand sie ablehnt? Für dieReligion der Vernunft sind wir wahrlich nicht in Not und Tod gegangen, sondern für die gottgeoffenbarte, zum Gemeingut der gesamten Mensch­heit bestimmte Lehre! Unsere Auserwähltheit ist unser Stolz, unser Glück will Mendelssohn dies unser Eigenes verwischen?

Nimmermehr. Mendelssohn war von der Göttlichkeit, d. h. der von Gott durch Mose am Sinai geoffenbarten Wahrheit des Judentums wie von der im Talmud über­lieferten mündlichen Auslegung überzeugt. Judentum bedeu­tete für ihn nicht geoffenbarte Religion, sondern geoffen- barte Thora.

Religion beurteilte dieser Philosoph nur nach ihrem Ein­fluß auf das sittliche Handeln ihrer Bekenner. Hierin stand ihm das Judentum an erster Stelle, weil es beim Glauben Israels nur auf die rechte Tat ankommt: Liebe und Gerech­tigkeit sind das Primäre; Denken, Erkenntnis und Glauben ergeben sich erst aus dem sittlichen Handeln.Der rechte Glaube tritt als Folge tätiger Gesetzesbeobachtung ein, nicht als ihr Grund. Ohne Gottesglauben keine Tugend.Ohne Gott und Vorsehung und künftiges Leben ist Menschenliebe eine angeborene Schwachheit, und Wohlwollen wenig mehr als eine Geckerei, die wir uns einander einzuschwatzen

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