sich Untugenden unter uns verbreitet, die unsere Väter nicht kannten. Irreligion, Üppigkeit und Weichlichkeit, dieses Unkraut, das aus dem Mißbrauch der Aufklärung und Kultur hervorkeimt, hat leider auch unter uns Wurzel gefaßt, und wir sind der großen Gefahr ausgesetzt, daß der Strom des Luxus mit der Roheit auch die Strenge und Einfalt der Sitten wegschwemmt.“
Sittenverfall ging Hand in Hand mit einer Verachtung alles Jüdischen, ein Aufbäumen gegen Thora und religiöse Bräuche. Diese neue Generation war ja so aufgeklärt! Bald — hoffte sie — werden die bisher geduldeten Schutzjuden in den preußischen Staatsverband eingebürgert. Der politischen Gleichstellung muß die religiöse Einheit folgen; also: fort mit dem Ballast überlebter Vorschriften und abgestorbener Formen, Übertritt zur herrschenden Religion. Der „strahlenden Kirche“ wurde die „alte, traurige Synagoge“ gegenübergestellt.
Der Gottesdienst in der damaligen Form konnte die Herzen der modern gebildeten Jugend nicht erwärmen. Man „dawnete“, d. h. man sagte die vorgeschriebenen Gebete psalmodierend her, kaum aus einem Bedürfnis des Gemütes heraus, sondern „weil es geschribben steiht“. Chor- und Gemeindegesang — der später die Berliner Synagogen vor allen ihren Schwestern auf dem Erdenrund auszeichnete — gab es nicht. In Kaftan und polnischer, pelzverbrämter Sammetmütze behandelte der Rabbiner wie bisher auf Jüdisch-Deutsch Talmudtraktate. Den Altfrommen mochten derartige Predigten gefallen. Die an Lessing und Mendelssohn geschulten Jüngeren langweilten sich. Namentlich die Frauen. Ihre religiösen Kenntnisse beschränkten sich auf die häuslichen Bräuche, deren Übung ihnen oblag. Außerdem lernten sie — wie die Männer — die jüdisch-deutsche Kursivschrift. Henriette Herz z. B. brachte diese Schriftart ihrem Verehrer Wilhelm von Humboldt bei, da-