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Geschichte der Juden in Berlin und in der Mark Brandenburg / von Eugen Wolbe
Entstehung
Seite
228
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sich Untugenden unter uns verbreitet, die unsere Väter nicht kannten. Irreligion, Üppigkeit und Weichlichkeit, dieses Unkraut, das aus dem Mißbrauch der Aufklärung und Kultur hervorkeimt, hat leider auch unter uns Wurzel ge­faßt, und wir sind der großen Gefahr ausgesetzt, daß der Strom des Luxus mit der Roheit auch die Strenge und Ein­falt der Sitten wegschwemmt.

Sittenverfall ging Hand in Hand mit einer Verachtung alles Jüdischen, ein Aufbäumen gegen Thora und religiöse Bräuche. Diese neue Generation war ja so aufgeklärt! Bald hoffte sie werden die bisher geduldeten Schutzjuden in den preußischen Staatsverband eingebürgert. Der poli­tischen Gleichstellung muß die religiöse Einheit folgen; also: fort mit dem Ballast überlebter Vorschriften und abgestor­bener Formen, Übertritt zur herrschenden Religion. Der strahlenden Kirche wurde diealte, traurige Synagoge gegenübergestellt.

Der Gottesdienst in der damaligen Form konnte die Herzen der modern gebildeten Jugend nicht erwärmen. Man dawnete, d. h. man sagte die vorgeschriebenen Gebete psalmodierend her, kaum aus einem Bedürfnis des Gemütes heraus, sondernweil es geschribben steiht. Chor- und Gemeindegesang der später die Berliner Synagogen vor allen ihren Schwestern auf dem Erdenrund auszeichnete gab es nicht. In Kaftan und polnischer, pelzverbrämter Sammetmütze behandelte der Rabbiner wie bisher auf Jü­disch-Deutsch Talmudtraktate. Den Altfrommen mochten derartige Predigten gefallen. Die an Lessing und Mendels­sohn geschulten Jüngeren langweilten sich. Namentlich die Frauen. Ihre religiösen Kenntnisse beschränkten sich auf die häuslichen Bräuche, deren Übung ihnen oblag. Außerdem lernten sie wie die Männer die jüdisch-deutsche Kur­sivschrift. Henriette Herz z. B. brachte diese Schrift­art ihrem Verehrer Wilhelm von Humboldt bei, da-