religiösen Lehre von Gut und Böse die individuelle Verantwortlichkeit des Menschen lür sein Tun in den Vordergrund gerückt und demgemäß auch die Lehre von Lohn und Strafe individuell aufgefaßt. Sie traten der unter ihren Zeitgenossen vielverbreiteten Meinung entgegen, die in einem volkstümlichen Gleichnis ihren Ausdruck fand: „Die Väter haben saure Trauben gegessen, und die Zähne der Söhne sind stumpf“ (Jeremia 31, 29—30 und Ezechiel 18, 2). Seitdem entwickelte sich im Judentum die Lehre von Lohn und Strafe nach diesen beiden Richtungen hin: Der Gesamtheit legt das Judentum hohe sittliche Pflichten auf, an deren Erfüllung das materielle und geistige Glück aller geknüpft ist, deren Nichterfüllung aber für die Gesamtheit verhängnisvoll wird. Daneben wird die Verantwortlichkeit des Einzelnen stärker betont; der Mensch wird in seinem sittlichen Tun und Lassen auf sich selbst gestellt, er selbst hat die Folgen seines Tuns zu tragen.
Bei der Vorstellung von individuellem Lohn und individueller Strafe drängte sich aber das Problem von den Leiden des Gerechten und dem Glück des Frevlers auf. Es ist das Problem, das den Inhalt des Lehrgedichtes Hiob bildet, mit dem sich auch der Prophet Jeremia abmüht (12, 1), und das Kohelet (7, 15) in die Worte kleidet: „Es gibt Gerechte, die in ihrer Gerechtigkeit zugrunde gehn, und Böse, die in ihrem Frevel lange leben.“ Diese Erscheinung, die uns im Leben häufig begegnet, sollte ihre Erklärung in der Eschatologie finden, in der Lehre vom ewigen jenseitigen Leben, in dem der gerechte Ausgleich für ein frommes oder sündiges Leben im Diesseits erwartet wird. Den Anfängen der Eschatologie begegnen wir bereits in den jüngeren Schriften der Bibel (Daniel 12, 2—3); sie fand ihre Ausbildung im apokryphischen Schrifttum und im Talmud. „Nicht in diesem Leben wird die fromme Tat belohnt“ (Kiddu- schin 39a). „Wer eine fromme Tat im diesseitigen Leben ausübt, den empfängt sie und geht ihm voran in der zukünftigen Welt, und wer eine Sünde begeht im diesseitigen Leben, den hält sie fest und geht ihm voran am Tage des Gerichts“ (Sota 3 b). Lohn und Strafe im jenseitigen Leben sind nach den meisten Aussprüchen im Talmud und nach übereinstimmender Auffassung der jüdischen Religionsphilosophie rein geistiger Natur. Allerdings nähert sich die Vorstellung von Lohn und Strafe im Jenseits in vereinzelten talmudischen Aussprüchen und in manchen ethischen Volksschriften mehr einer volkstümlich naiven Auffassung.
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