Teil eines Werkes 
Teil 1 (1920) Die Grundlagen der jüdischen Ethik
Entstehung
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Wille zum Leben

Dem Judentum ist der Wirklichkeitssinn eigen. Er hat nichts von jenem Realismus, der nur das kennt und anerkennt, was sich ergreifen und fassen läßt. Alle die Wirklichkeit, die sich in Macht und Menge und Herrschaft kundtun will, wird von ihm im Gegenteil als das Vergängliche und Nichtige erklärt. Er ist der Sinn für die Wirklichkeit, die sich im Guten erschließt, der Sinn für die Be­deutung des Lebens, die sich in der sittlichen Tat eröffnet, der Sinn dafür, daß der Mensch diese wahre Wirklichkeit zu schaffen vermag. Aus dem Willen zum Guten, aus dem Drange, zu gestalten und zu wirken, geht dieser Wirklichkeitssinn hervor. Der Wille zum Leben wird hier von der Religion nicht nur gewürdigt, sondern gefordert. Gott hat dem Menschen das Leben gegeben,das Leben und das Gute. Das Leben ist so dem Menschen der Besitz, den er hüten, die Aufgabe, die er lösen soll.Du sollst leben, auf diesem Gebote bauen sich alle andern auf;damit du lebest, auf diese Verheißung gründen sich alle andern.

Damit ist ein bestimmtes, bejahendes Verhältnis zur Welt, in der der Mensch lebt, bereitet. Sie ist nicht Schein und nicht Trug, sie ist nicht die Stätte des Elends und der Pein, sondern sie ist das Gebiet der Lebensaufgabe, das Feld der Pflicht. Das Leben des Menschen gehört in die Welt hinein, so sehr, daß sie, wie die wunder­same Gleichnisrede der Bibel es in immer neuen Bildern' zeigen will, teilnimmt an seiner Freude und an seinem Leid, an seiner Frömmigkeit und an seiner Schuld, daß sie mit ihm jubelt und mit ihm klagt. Von dem Acker, den der Mensch bebaut, bis hin zu dem Gottesreich, an dem er arbeiten soll, damit es auf Erden aufgerichtet werde, in allem ist die Welt ihm gegeben, daß er sie gestalte, daß er den Willen zum Guten, den Willen zum Leben in ihr bewähre. In seinem Wirken und Schaffen soll er den Segen erleben, der ihm in der Welt gewährt wird.Du sollst dich freuen all des Guten, das der Ewige, dein Gott, dir gibt.

Auch das Judentum kennt freilich die Abkehr von so manchem, was das Leben enthält, es kennt auch seine Askese. Jede Religion weiß von dem, was im Dasein nur körperlich, was in ihm gewöhnlich

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