Teil eines Werkes 
Teil 1 (1920) Die Grundlagen der jüdischen Ethik
Entstehung
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und niedrig ist. Das Judentum zumal weiß, daß den wahren Willen zum Leben nur der hat, der auch den Willen hat zum Ertragen und Entsagen. Besonders der Gedanke des Gesetzes, des Weges, den Gott gezeigt, des Gebotes, in dessen Erfüllung der Mensch erst seine Freiheit findet, hat hier die Selbstzucht gelehrt, es gefordert, daß der sittliche Wille, der die Grenzen setzt und die Richtung weist, stärker sei als das bloße Begehren. Das großeDu sollst nicht ist im Judentum wie in keiner andern Religion erklungen.

Daraus ist der Wunsch auch hier hervorgegangen, um Gottes willen die Kraft des Verzichts zu beweisen, um der Idee willen auch so manches sich zu versagen, was erlaubt sein kann, und dadurch zu bewähren, daß der Geist dem Körper zu gebieten vermag. Das Judentum hat seine Nasiräer gehabt, es hat seinen Kreis der Essener besessen und derer, die ihnen nachfolgten, bis hin zu dem Kreise des Mystikers Isaak Lurja; es hat seine Fasttage gehalten, und die Gelübde gekannt; es hat dem Verbotenen die Grenzen gedehnt. Dort, wo den Körper die Notdurft des Alltags umgibt, hat es die Speise­satzungen aufgestellt. Wie immer sie zu Anfang gemeint waren, in ihnen ist das Judentum seinen Weg der Askese gegangen, nicht den zur Entsagung und Kasteiung als Selbstzweck, zur Abtötung des Fleisches, sondern zur freien Erhebung über das nur Irdische. In ihnen hat es einen bewußten Willen zur Selbstzucht erzogen. In ihnen und in allem dem andern Verbietenden hat der Jude die Mäßigung gelernt, es gelernt, sich über das Begehren zu erheben und stärker zu sein als die Materie.

Auch darin fand der Wille zum Leben seinen Ausdruck. Es war der Wille zu dem Leben, das der Mensch nicht nur empfängt, sondern das er gestaltet. Dies war hier das Entscheidende. In dem Gebote Gottes zeigte das Judentum dem Leben seine Bedeutung, und so konnte es hier gefordert werden:Du sollst das Leben wählen, damit du lebest, du und deine Nachkommen.Leo Baeck