Teil eines Werkes 
Bd. 2 (1903) Goethe ; Theil 1
Entstehung
Seite
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Das delire de n&gation.

Irrenärzten beschriebene delire de negation. Cotard machte zuerst darauf aufmerksam, daß sich besonders bei älteren Melancholischen mit der Zeit ein eigen­thümlicher Verneinungswahn ausbilden kann, der leicht in ein delire d&normite umschlägt. Alles ist nur scheinbar, in Wirklichkeit giebt es nichts. Die Schuld des Kranken aber ist wirklich und so unermesslich, dass sie alles erfüllt. Nichts ist ausser ihm, keine Zeit, kein Raum, er, seine Schuld und seine Strafe sind ewig. Alle Dinge der Welt sind nur ein trügender Schein, bestimmt, die Leiden des Kranken zu ver­mehren, Gespenster, die dem Nichts angehören. Und so fort. Unschwer erkennt man in den Reden des Harfners das delire de ne&gation, und es ist wohl be­greiflich, dass ein so wunderlicher Seelenzustand Goethes Aufmerksamkeit fesseln musste, sobald wie er von ihm Kunde erhielt.

Der Selbstmord des Harfners ist nicht als Aus­fluss der Krankheit gedacht. Während der Krankheit fürchtete er durch den Knaben zu sterben und wollte ihn deshalb lieber umbringen, oder in phantastischer Weise opfern. Nach der Genesung tödtet er sich, weil er durch seine Unvorsichtigkeit den Knaben ge­tödtet zu haben glaubt, oder richtiger, weil zu seiner Verzweiflung über sein jammervolles Leben der Schreck über den Tod des Knaben hinzutritt. Als krankhaft kann man höchstens die Reizbarkeit Augustins an­sehen. Uebrigens hat Goethe doch wohl die Absicht gehabt, den Wahn des Harfners als eine geheimniss­volle Ahnung erscheinen zu lassen: Der blonde Knabe,

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