Teil eines Werkes 
Bd. 2 (1903) Goethe ; Theil 1
Entstehung
Seite
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vor dem sich Augustin sein Leben lang gefürchtet hat, wird thatsächlich Ursache seines Todes, wenn auch nur als Werkzeug höherer Mächte.

Auffallend ist, daß Augustin nicht gleich stirbt. Man möchte es für etwas grausam halten. Goethe zeigt aber dabei, dass ihm die nicht seltenen Fälle be­kannt waren, in denen das in selbstmörderischer Ab­sicht ausgeführte Halsabschneiden nur zur Durch­trennung der Luftröhre führt. Der Kranke stirbt dann nicht, weil die grossen Halsadern nicht angeschnitten sind. Freilich wird eben deshalb in der Regel auch nachträglich keine Verblutung eintreten, wenn der Ver­band entfernt wird.

2. Mignon.

Die Mutter Mignons wurde, nach der Entdeckung des Liebesverhältnisses zu ihrem Bruder Augustin durch den Beichtvater in Gewissensqual versetzt, irr­sinnig,ohne wahnsinnig zu sein. Als das Kind verschwunden war, lebte sie in dem Gedanken, der See werde die Leiche oder doch die Knochen aus­werfen. Durch den Einfluss des Geistlichen wurde siein der Gegend für eine Entzückte, nicht für eine Verrückte gehalten. Man versuchte sie dadurch zu heilen, dass man ihr Kinderknochen in die Hände spielte. Als ein Skelet beisammen war, nahm die Wärterin es weg. Die Kranke glaubte, ihr Kind aus den Knochen auferstehen und glänzend zum Himmel auffahren zu sehen; sie wurde ruhiger und heiterer, ass aber immer weniger und starb bald.