Teil eines Werkes 
Bd. 2 (1903) Goethe ; Theil 1
Entstehung
Seite
104
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Wilhelm Meister.

tont. Dann wirft sie sich, wie ein Ressort, das zu­schlägt, dem geliebten Wilhelm um den Hals und ver­giesst Thränen im Strome, unter denen allmählich Be­ruhigung eintritt. In der Philinen-Nacht regt sich Mignon sehr auf, sie bekommt in Eifersucht und Angst ihre Herzzufälle und verbringt die ganze Nacht unter entsetzlichen Zuckungen zu den Füssen des Harfners. Als sie viel später die Scene erzählt, wieder­holt sich der Schmerz, ‚es wand sich wie ein Wurm an der Erde. Erschüttert von Gemüthsbewegungen, verzehrt von ihrer Sehnsucht nach der südlichen Hei­math und von der Liebe zu Wilhelm, siecht sie nach der Trennung von diesem dahin. Der Einfluss Theresens und Nataliens beruhigt sie zwar, macht sie sanfter und mädchenhafter, der fortschreitende Verfall aber ist nicht aufzuhalten. Natalie erzählt von der Krankheit, dass das Kind von wenigen tiefen Empfin­dungen nach und nach aufgezehrt werde, dass es bei seiner grossen Reizbarkeit, die es verberge, von einem Krampf an seinem armen Herzen oft heftig und ge­fährlich leide, dass dieses erste Organ des Lebens bei unvermutheten Gemüthsbewegungen manchmal plötz­lich still stehe, und dass dann keine Spur der heil­samen Lebensregung in dem Busen des guten Kindes gefühlt werden könne. Sei der ängstliche Krampf vor­bei, so äussere sich die Kraft der Natur wieder in ge­waltsamen Pulsen und ängstige das Kind nun mehr durch Uebermaass, als es vorher durch Mangel ge­litten habe. Als sie Wilhelm wiedersah, trug sie lange weisse Mädchenkleider und theils lockige, theils auf­