Teil eines Werkes 
Bd. 2 (1903) Goethe ; Theil 1
Entstehung
Seite
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Die Krankhaftigkeit Mignons.

gebundene, reiche braune[früher schwarze] Haare. Sie war sehr abgezehrt,sah völlig aus wie ein abge­schiedener Geist, war sanft und ruhig. Bei der An­kunft Theresens springt Mignon mit Felix um die Wette, Als aber Wilhelm und Therese in ihrer Gegen­wart einander umarmen, fährt Mignon mit der linken Hand nach dem Herzen, streckt den rechten Arm heftig aus und fällt mit einem Schrei todt nieder. Der Markese sieht auf dem Arme der Leiche eine Tätowirung und erkennt daran seine Nichte.

Mignon ist offenbar auch eine reine Phantasie­Gestalt.) Sie sollte wohl hauptsächlich als wunder­bar und rührend erscheinen, und man darf zweifeln, ob ihr von vornherein krankhafte Züge zugedacht waren. Auch zur Tochter des Harfners hat sie Goethe

wahrscheinlich erst in späteren Jahren gemacht, da im Anfange gar nichts auf ein solches Verhältniss hin­

*) Natürlich kenne ich die Geschichte von dem Seiltänzer­Mädchen in Göttingen, die Goethe wahrscheinlich schon in Leipzig erfahren hat. Aber diese Anekdote, sowie Goethes Be­gegnungen mit fahrenden Kindern haben doch nur für den Rahmen Mignons gedient. Die Schilderung der Person und ihrer Abnormitäten scheint Goethes Eigenthum zu sein.

Trotz der Ueberladung mit pathologischen Zügen ist der poetische Reiz der Gestalt Mignons gross, und Goethe selbst stellte sie sehr in den Vordergrund. Am 29, V. 1814 sagte er (sich seiner Neigung zum Superlativ überlassend) zum Canzler, die Sta@lhabe Mignon bloss als Episode beurtheilt, da doch das ganze Werk dieses Charakters wegen geschrieben sei.

Knebel fragt Goethe am 1. 11. 1796:Ist die letzte Ver­klärung einem so dämonischen Wesen, wie nun Mignon er­scheint, angemessen? Kann sie wohlthun?