Teil eines Werkes 
Bd. 2 (1903) Goethe ; Theil 1
Entstehung
Seite
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deutet. Jetzt steht das Mädchen vor uns als Kind eines geisteskranken Geschwisterpaares. Nach ärzt­licher Auffassung müssen wir bei ihm erbliche Belas­tung schlimmster Art voraussetzen, und wirklich schil­dert Goethe das Bild einer schlimm Entarteten und nicht Lebensfähigen. In wieweit hier von überlegter Absicht zu reden ist, das dürfte schwer zu sagen sein. So lebhaft in Goethe der Gedanke an das Pathologische überhaupt war, so scheint er sich doch um seine con­creten Formen nicht viel gekümmert zu haben. Wahr­scheinlich hat er sich auch nicht überlegt, was. er eigentlich in Mignons Krankheit schildern wollte, ob einen Herzfehler mit epileptischen Anfällen, oder was sonst. Vielmehr war sein Gedanke wohl der: Mignon ist ein Wesen, das vorwiegend mit dem Herzen(im übertragenen Sinne) lebt, und als ihm der Lebensweg versperrt wird, so leidet es vorwiegend am Herzen(im eigentlichen Sinne). Wir können daher wohl von weiteren Erörterungen über die Diagnose bei Mignons Krankheit absehen. Die Schilderung des Krampfan­falles ist die eines hysterischen Anfalles. Wahrschein­lich ist es Goethe, trotz seiner Abneigung gegen solche Anblicke, nicht erspart worden, gelegentlich hysterischen Anfällen zu begegnen, und so konnte die Schilderung an eigene Erinnerungen anknüpfen. Die Beschreibung der Herzbeschwerden erinnert theils an die Beschwer­den Hysterischer, theils an die wirklich Herzkranker. Es ist begreiflich, dass ein Dichter dergleichen zu­sammenwirft. Die Tätowirung erfand Goethe wohl nur deshalb, weil er ein Erkennungszeichen brauchte