Teil eines Werkes 
Bd. 4 (1904) Schopenhauer
Entstehung
Seite
223
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Ueber das vierte Buch.

LE 1

so geringer ist das Gefühl der Freiheit, um so grösser das Gefühl des Zwanges. Man spricht ja von zwin­genden Gründen, man könne nicht anders, man sagt: cest plus fort que moi, und bei einer gewissen Stärke des Motives hört auch das Gefühl der Verantwortlich­keit auf. Umgekehrt fühlen wir uns um so freier, um so unabhängiger, je geringer das Gewicht des Motives ist, je mehr von unserem Eigenen in der Handlung steckt. Wir sind die Thäter unserer Thaten, aber in sehr verschiedenem Maasse. In diesem Sinne ist auch die Zurechnungsfähigkeit des Normalen nur partiell, wir selbst rechnen uns im Bösen und im Guten unsere Thaten nur insoweit zu, wie wir sie als Ausflüsse unseres Wesens betrachten. Sodann ist noch eins zu beachten. Die menschlichen Handlungen sind zwar principiell von anderen Vorgängen nicht verschieden, gradweise aber doch. Sie sind im strengen Sinne des Wortes nie voraus zu bestimmen, weil nie genau die gleichen Bedingungen wiederkehren. Je höher ein Individuum steht, um soindividueller ist es. Jeder Mensch ist ein Novum, er ist, solange wie die Welt steht, noch nicht dagewesen. Das Gesetz lautet: bei gleichen Bedingungen gleiche Erfolge; soweit wie die Bedingungen verschieden sind, sind die Erfolge ver­schieden. Nun bringt jeder Mensch in die Bedingungen seines Handelns ein Nochniedagewesenes durch seine Individualität hinein, ändert sich überdem fortwährend, also steckt in der Rechnung immer ein Irrationales, das durch keine Steigerung der Erkenntniss ausgeschlossen werden kann.