Teil eines Werkes 
Bd. 4 (1904) Schopenhauer
Entstehung
Seite
235
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Ueber das vierte Buch.

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Mit Recht kann man gegen Schopenhauer ein­wenden, dass er den Vorgang beim Mitgefühle nicht genau geschildert habe, unterlassen habe, zu zeigen, dass dabei eigentlich eine Täuschung statthat. Wenn wir aus den Umständen und aus den Bewegungen eines Wesens schliessen, dass es leidet, machen wir uns eine Vorstellung von seinem inneren Zustande und glauben im Mitgefühle an diesem Theil zu haben, während wir doch nur unseren eigenen Zustand er­fahren können. Schopenhauer stellt die Sache so dar, als fühlte man wirklich das Leid des Anderen, das­selbe Leid, und behauptet, dass fremdes Wohl und Wehe unmittelbar uns zum Handeln veranlassen könne. In Wirklichkeit bezieht sich natürlich jede Handlung auf eigenes Wohl und Wehe, und Schopenhauers Prämisse, die besagt, dass eine Handlung, die sich auf eigenes Wohl und Wehe bezieht, sei egoistisch, also nicht moralisch, ist nicht richtig. Will man dem Worte egoistisch den Sinn wahren, so muss man jede Handlung, deren bewusster Zweck das eigene Wohl ist, egoistisch nennen. Moralisch sind dann die Hand­lungen, deren bewusster Zweck das Wohl des An­deren ist, gleichgiltig ob die Täuschung, des Anderen Leid sei unser Leid, zu Grunde liegt, oder ob die Reflexion eingetreten ist. Dabei behält aber das Mit­gefühl die ihm von Schopenhauer zugeschriebene Be­deutung, denn die Moralität liegt darin, dass unsere Vor­stellung vom Leid des Anderen und das durch sie erregte Nachgefühl uns zum Handeln bringen können. Aber Schopenhauer übersieht wegen seiner Unter­