Teil eines Werkes 
Bd. 1 (1958) Gedichte
Entstehung
Seite
217
Einzelbild herunterladen

KÖNIG CHRISTIAN DER ZWEITE IM TURM ZU SONDERBURG

In meiner frühen Jugend erzählte mir mein Vater von einem König, der in langer Gefangenschaft bei endlosem Wandern um den runden Tisch seines Kerkers der steinernen Platte dieses Tisches mit dem Fin­ger nach und nach eine tiefe Rille einschliff. Da meine Seele noch im Märchenlande lebte, stellte die Phantasie das Leben des früher einmal doch auch freien Königs in einen überirdischen Glanz und stattete den Kerker mit einer Düsterkeit aus, die wiederum auch jenseits aller Wirklichkeit lag. Ich dachte, es könne nie ein Mensch Ungeheuerlicheres erlebt haben als dieser König, da er aus hellstem Licht in die äußerste Finsternis hinausgestoßen wurde, und wenn ich später in der Schule vom Heulen und Zähneklappern am Ort der Verdammnis hörte, so trat mir Christian II. von Dänemark wieder vor die Augen.

In die düstere Ballade dieses Lebens kam es für mich wie ein lichter, volksliedhafter Ton durch die Liebe der Düweke, der kleinen Taube. Auch dieses Mädchen aus dem Volke entwuchs mir ins Märchenhafte. Düweke starb früh eines gewaltsamen Todes. Dennoch war ihr aufge­geben, die Seele des Gefangenen zu erlösen, und wenn ich mit dem armen König mitleidig eine Nacht wachend verbrachte, so meinte ich zuweilen ein Taubengurren zu hören, das den nahenden Tag und in ihm die Erlösung anzeigt.

Und noch ein Drittes wäre zu sagen. Das Leben gab mir später gleichnishaft gesprochen fast sechs lange Jahre hindurch Gelegenheit, im Kerker um einen Steintisch zu wandern. Ich meine, damals mit der eigenen Gefangenschaft zugleich von dem unendlich fürchterlicheren Kerkerschicksal dieses Königs etwas begriffen zu haben.

Und das geschichtliche Bild des gefangenen Königs?

Christian II., der für kurze Zeit die Kronen Dänemarks, Norwe­gens und Schwedens auf seinem Haupte vereinigte, wurde nach weni­gen Jahren des Glanzes und der Fülle das Opfer der eigenen Maß­losigkeit, einer Maßlosigkeit, die zwar mit seinem Charakter von vornherein gegeben war, die aber gewiß vom ungebärdig hervorbre­chenden Lebensgefühl der Renaissance her Bestätigung und Steigerung erfuhr. Dieser König, Schwager Kaiser Karls V., stand am Scheideweg

217