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Die jüdische Aufklärung : Philosophie, Religion, Geschichte / Christoph Schulte
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50 Moses und die Tora

erstand nie wieder in Israel ein Prophet wie Mose, der den Herrn von Angesicht zu Angesicht erkannte.» (Deut. 34,io) In der Tora wird indessen noch manches andere von Moses gesagt. Doch ist die zentrale rabbinische Lehr­meinung, daß kein größerer Prophet in Israel erstand als Mose. Man definiert Moses geradeheraus als Propheten. Prophet zu sein ist Moses bei weitem wichtigstes Attribut im rabbinischen Judentum. Um so erstaunlicher ist es, daß die jüdischen Aufklärer des 18. Jahrhunderts dieses Attribut geradezu ostentativ meiden und die Moses-Figur in verschiedener Weise neu bestimmen. Die jüdische Auf­klärung des 18. Jahrhunderts beruft sich sonst häufig auf Maimonides als ihr Vorbild und den Inbegriff der mittel­alterlichen jüdischen Aufklärung. 42 Aber in diesem Punkt fehlt ihr die Gemeinsamkeit mit dem mittelalterlichen Aufklärer Maimonides. Sowohl die Figur des Moses als auch, im Gefolge, die Auffassung von der Tora ändern sich in der modernen jüdischen Aufklärung radikal.

i. Prophet: Maimonides

Für Maimonides unterscheidet sich die Figur des Mose als Prophet von allen anderen Propheten in vier Punkten: i. Während die anderen Propheten ihre Offenbarungen im Traume oder in der Vision empfangen, empfängt sie Mose bei klarem Bewußtsein in wachem Zustand. 2. Die ande­ren Propheten empfangen ihre Offenbarungen mittelbar durch einen Engel, Moses unmittelbar von Gott; daher sind seine Weissagungen nicht figürlich, nicht im Bilde und Gleichnis, sondern in vollster Deutlichkeit und Be­stimmtheit zu verstehen. 3. Die anderen Propheten gera­ten, sobald sie die Inspiration empfangen, in einen Zu­stand der Angst und Bestürzung, Mose aber bleibt als ein damit Vertrauter in ungestörtem seelischem Gleichge­wicht. 4. Die übrigen Propheten besitzen die Propheten­gabe nicht zu jeder Zeit, Mose aber immer. 43