Gesetzgeber und Politiker: Spinoza 53
rede zum Tractatus, «daß die Gesetze, die Gott dem Mose offenbart, nichts anderes waren als einzig die Rechtsordnung des hebräischen Reiches und daß demnach außer ihnen auch niemand anders sie anzunehmen brauchte, ja daß sie selbst nur so lange, wie ihr Reich bestand, an sie gebunden waren.» 50
Während Maimonides’ rabbinisches Hauptwerk Miscb- ne Tora («Wiederholung der Tora») die maßgebliche mittelalterliche Kodifizierung der in Talmud und Tora enthaltenen Religionsgesetze ist und während sich Maimonides während langer Jahrzehnte der Auslegung der unwandelbaren Rechtsordnung der Tora Israels widmete, wird der Tora von Spinoza gerade ihr einzigartiger religiöser Charakter der immerwährenden Gültigkeit abgesprochen und sie zur nur profanen Rechtsordnung des mit der Zerstörung des Tempels längst untergegangenen Reichs der Hebräer degradiert. Die Tora wird damit historisiert und profaniert, denn sie gilt nur noch als ein vergängliches, irdisches Dokument aus einer vergangenen Epoche. Darüber hinaus wird, nach Untergang des Reichs der Hebräer, sogar die gegenwärtige Relevanz der Tora für die Juden bestritten und dem rabbinischen Judentum in Vergangenheit und Gegenwart damit der Lebensnerv abgeschnitten.
Ganz folgerichtig ändert sich damit auch die Rolle des Moses. Nicht nur beweist Spinoza im 8. Kapitel des Tractatus, daß die Tora nicht von Moses selbst aufgeschrieben wurde, er bestreitet auch, daß Moses ein Prophet gewesen sei und daß er, wie die Tora, der Talmud, Maimonides und der Siddur sagen, Gott geschaut habe. 51 Da die Tora lediglich die Rechtsordnung für das Reich der Hebräer war, war Moses kein Prophet, sondern lediglich ein Gesetzgeber, also einer der von Maimonides verachteten Politiker. Das Argument des Maimonides, Gottes Tora spreche wegen deren begrenzter Fassungskraft die Sprache der Menschen, spitzt nun Spinoza auf die Pointe zu, die Tora als menschliche Rechtsordnung habe lediglich das zeitliche Wohl des Hebräer-Staates zum Ziel gehabt und ihre