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Moses und die Tora
einzelnen Vorschriften seien der intellektuellen Fassungskraft, den Landessitten und Notwendigkeiten der alten Hebräer angepaßt. Moses, der als Gesetzgeber und eben nicht als Prophet agierte, paßte, so Spinoza, seine Tora diesem historischen Kontext an: «So lehrt z. B. Moses die Juden nicht als Lehrer und Prophet, sie sollten nicht töten und nicht stehlen, sondern als Gesetzgeber und Fürst; denn er begründet seine Lehre nicht durch die Vernunft, sondern fügt seinen Befehlen eine Strafanordnung bei, und Strafen können und müssen ja nach Charakter der einzelnen Völker verschieden sein, wie die Erfahrung zur Genüge gelehrt hat .» 52
Moses ist für Spinoza folglich der Gesetzgeber und nur der Gesetzgeber , 53 der seinem Volk nach dem Exodus aus Ägypten die zur Wohlfahrt des Staates und für die irdische Glückseligkeit notwendige Rechtsordnung gab, die ebenso notwendig der begrenzten Fassungskraft der Hebräer angepaßt war. Ohnehin ist dieser Staat längst vergangen und damit, dies sagt Spinoza aus Vorsicht allerdings nicht ausdrücklich, das rabbinische Judentum der Diaspora mit seiner Pflege der schriftlichen und der mündlichen Tora, des Pentateuch, der Midraschim und des Talmud in der Diaspora ein Relikt. Das rabbinische Judentum wird dadurch nämlich zur Gruppe derjenigen Juden, die sich der vernünftigen neuzeitlichen Einsicht verschließen, die Tora sei nur eine temporäre Staatsverfassung des alten Hebräer- Staates gewesen, sie sei genau deswegen jedoch in der Gegenwart normativ veraltet, überholt und nicht mehr bindend.
Zwischen der Auffassung von Maimonides, der Moses als Propheten definiert und gerade nicht als politischen Gesetzgeber, und der des Spinoza, der Moses nur als partiku- laristischen politischen Gesetzgeber bestimmt, besteht ein von Spinoza gewollter, diametraler Gegensatz. Spinozas Auffassung von Moses als politischem Gesetzgeber ist aus rabbinischer Sicht unjüdisch. Denn die Betonung von Moses als Prophet in rabbinischen Kreisen ist begleitet von der