Gesetzgeber und Politiker: Spinoza 5 5
Lehre der Tora min HaSchamajim, der präexistenten <Tora vom Himmel», die es schon vor Erschaffung der Welt gibt, ehe nach Erschaffung der Welt die Tora min HaSinai, die Tora vom Sinai, dem Moses dortselbst offenbart wird. Die Tora ist demnach älter als die Welt, sie existiert vor aller Zeit und schon vor der Weltschöpfung. Für die Kabbalisten gar entsteht die Welt aus den Buchstaben der Tora, die Tora determiniert, so das Sefer Jezira, durch ihre Buchstaben nicht nur die moralische, sondern schon die physikalische Weltordnung der Schöpfung . 54
Damit war der Prophet Moses nach jüdischer Auffassung eine Art Medium der Tora als Offenbarung Gottes, er ist nicht selbst Gesetzgeber. Gesetzgeber der Tora ist Gott. Daß Moses ein politischer Gesetzgeber sei, ist eine christliche, genauer, eine protestantische Lehre, die in Luthers antijüdischem Wort von der durch das Evangelium obsolet gewordenen Tora als «der Jüden Sachsenspiegel», also der Tora als einem veralteten, bloß profanen Landesgesetz, das nur den Juden gegeben wurde, ihren gültigen Ausdruck gefunden hat . 55 Denn wenn die Tora nur profanes Landesgesetz ist, dann ist Moses ein nur politischer Gesetzgeber eines Landesgesetzes. Spinoza knüpft hier an die lutherische, nicht an die jüdische Position an.
Bis zu Spinoza taucht Moses als rein politischer Gesetzgeber in Texten jüdischer Autoren gar nicht auf, nach Spinoza verhält sich dies keineswegs mehr so. Die Autoren der jüdischen Aufklärung konnten diese Position bei Spinoza finden, den sie fast alle kannten. Sie konnten sie prominent jedoch auch bei dem aufgeklärten Lutheranern in der deutschen Aufklärung finden, bei Reimarus, bei Michaelis und anderen, für die der Freidenker Spinoza nur bestätigte, was sie von Luther schon wußten, nämlich daß die Tora der «Jüden Sachsenspiegel» gewesen sei, ein nur für die alten Hebräer gedachtes, profanes Rechtssystem der Vergangenheit, das lediglich für ein begrenztes Territorium in einem begrenzten Zeitraum galt.