Medium der geoffenbarten Gesetzgebung: Mendelssohn 57
des Judentums aber ist die Tora als «geoffenbarte Gesetzgebung» nur für die Juden. 58 Geoffenbarte Gesetzgebung schließt für Mendelssohn, auch hierin bleibt er der rabbi- nischen Tradition verbunden, nicht nur die schriftliche Tora des Moses vom Sinai, den Pentateuch ein, sondern auch die mündliche Tora, also solche Gebote, die dem Moses mündlich geoffenbart, von den Rabbinen tradiert, im Talmud verschriftlicht und schließlich in der Halacha kodifiziert wurden. Alle 613 Mizwot, alle 613 Gebote und Verbote der schriftlichen und der mündlichen Tora sind für Mendelssohn unveränderliche, geoffenbarte Gesetzgebung.
Da nach seiner Überzeugung nichts im Judentum den allgemeinen Vernunftwahrheiten der natürlichen Religion und der Wohlfahrt irgendeines Gemeinwesens widerspricht und der Gehorsam gegenüber Tora und Halacha Glaubens- und Gewissenssache ist, die, so die naturrechtliche Argumentation Mendelssohns, weder durch staatlichen noch durch kirchlichen Zwang beeinträchtigt werden darf, steht der bürgerlichen Anerkennung der Juden im Staat und unter den Aufklärern nichts entgegen. Die Juden können halachisch rechtgläubig bleiben und zugleich, im Einklang mit persönlichem Glück und höchstem Staatswohl, Aufklärer und gleichberechtigte Bürger in einem religiös neutralen Staatswesen werden - so ließe sich Jerusalem resümieren.
Mendelssohns Bestimmung der Tora als lediglich an die Juden adressierte «geoffenbarte Gesetzgebung» ist eine Kompromißformel: Einerseits bestätigt Mendelssohn in seiner Auffassung von der Tora-Gesetzgebung als einer «Geschichtswahrheit» 59 die Aussage von Spinoza und auch die zentrale These von Johann David Michaelis’ gerade in sechs Bänden erschienenem Werk Mosaisches Recht (Frankfurt/M. 1770-1775): Das mosaische Recht war, nach dem damaligen neuesten Stand der Forschung, zunächst das Recht des Gemeinwesens der Hebräer, Moses ein politischer Führer und Gesetzgeber. 60