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Die jüdische Aufklärung : Philosophie, Religion, Geschichte / Christoph Schulte
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62 Moses und die Tora

der Halacha kodifiziert sind, auch von aufgeklärten Juden beachtet werden, wenn auch nur von Juden.

«Ob nun gleich dieses göttliche Buch, das wir durch Mo­sen empfangen haben, eigentlich ein Gesetzbuch seyn, und Verordnungen, Lebensregeln und Vorschriften enthalten soll; so schließt es gleichwohl, wie bekannt, einen uner­gründlichen Schatz von Vernunftwahrheiten und Religi­onslehren ein, die mit den Gesetzen so innigst verbunden sind, daß sie nur Eins ausmachen.» «Aber Gesetze leiden keine Abkürzung. In ihnen ist alles fundamental, und in so weit können wir mit Grunde sagen: uns sind alle Worte der Schrift, alle Gebote und Verbote Gottes fundamental.» 67

Mendelssohns Beharren auf strikter Observanz und Tora- Treue ist fundamental. Er reklamiert Moses nicht mehr als Prophet wie Maimonides, aber er reduziert ihn auch nicht zum bloß profanen Gesetzgeber wie Spinoza. Moses ist bei Mendelssohn Empfänger der Offenbarung. Er ist, wie für Maimonides und die Tradition, höchstselbst als historische Person und Gesetzgeber des Pentateuch zugleich Empfänger und Vermittler der göttlichen Offenbarung an das jüdische Volk. Andererseits weiß Mendelssohn, daß Moses nicht Autor der rabbinischen Halacha ist, welcher der Water der Haskala> trotz Aufklärung treu bleiben will. Wie in so vielen anderen Punkten ist Mendelssohns Haltung zu Moses als dem Empfänger der «geoffenbarten Gesetzgebung» dieje­nige einer Vermittlung zwischen radikaler aufklärerischer Bibelkritik, die Moses wie Spinoza, Reimarus und Michae­lis als politischen Gesetzgeber reklamiert, und der Position der jüdischen Traditionalisten, welche die 613 Mizwot als göttliche Offenbarung sämtlich und unveränderlich befol­gen wollen. Für die Person Moses Mendelssohn waren ge­nau dieses durchaus kompatible Positionen: Er konnte die Ergebnisse der neuesten wissenschaftlichen Forschung und Bibelkritik eines Reimarus oder Michaelis zur Kenntnis neh­men und sie anerkennen, ohne der jüdischen Tradition und seinem Glauben an sie untreu zu werden. Für die Genera­tion der Maskilim nach Mendelssohn trifft dies allerdings