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Die jüdische Aufklärung : Philosophie, Religion, Geschichte / Christoph Schulte
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«Aedler Held»: Naftali Hartwig Wessely 63

nicht mehr zu. Für sie sind die 613 Mizwot nicht mehr «fun­damental» und unabänderliches Erbe jedes Juden. Damit ändert sich auch die Rolle des Moses grundsätzlich.

4. «Aedler Held»: Naftali Hartwig Wessely

Eine Sonderstellung in der Berliner Haskala nimmt ein Al­tersgenosse Mendelssohns ein, nämlich Naftali Hartwig Wessely. Er gehört wie Mendelssohn in die erste Genera­tion der jüdischen Aufklärer in Deutschland und hielt wie dieser an der Gültigkeit der Halacha fest, wollte aber Bil­dung und Wissenschaft unter den Juden Deutschlands und vor allem Osteuropas verbreitet wissen. Zeitweise ar­beitete Wessely am Biur («Erklärung»), dem traditionel­len Kommentar zu Mendelssohns Tora-Übersetzung, mit. Im Jahr 1782 war er mit der hebräischen Schrift Divrej Schalom VeEmet («Worte der Wahrheit und des Frie­dens», Berlin 1782) hervorgetreten, in der er die unter den Juden besonders Osteuropas übliche Beschränkung der Bildung auf religiöses Lernen in der Talmud-Tora kri­tisiert sowie eine generelle Reform des jüdischen Erzie­hungswesens und die Beschäftigung mit profanen Wis­sensstoffen gefordert hatte.

Aber anders als die Mehrzahl der anderen Maskilim war Wessely weder Philosoph noch Arzt noch Pädagoge. Er war vielmehr der bedeutendste hebräische Dichter sei­ner Generation und wirkte durch seine Gedichte. 68 Ähn­lich wie Klopstock mit seinem Messias verbrachte Wessely viele Jahre seines Lebens damit, ein großes hebräisches Versepos abzufassen, das man tatsächlich als jüdisches Gegenstück zu Klopstocks Messias betrachten kann, auch wenn es diesem hinsichtlich seiner literarischen Form und emotionalen Wirkung nicht entspricht. Die ersten fünf Bü­cher dieses Werkes mit dem hebräischen Titel Schirej Tife- ret («Lieder des Ruhms») erschienen ab 1789, das sechste und letzte 1829 postum. 69 Diese Lieder sind geschrieben