Geschäftsträger: Saul Ascher 69
der praktischen Vernunft unterliegt. Er formuliert ganz kantianisch und sehr pointiert seine Grundannahme über die jüdische Religion, «daß es [das Judentum] auf einer wahren Autonomie des Willens gegründet ist ». 76 Das Judentum und das Judesein sind nicht göttliche Stiftung oder Fügung, sie sind eine Konstitutionsleistung der praktischen Vernunft von gläubigen Juden.
Die allgemeinen metaphysischen «Vernunftwahrheiten» Mendelssohns wie die Existenz Gottes oder die Unsterblichkeit der Seele verfallen Kants Kritik, sie werden bei Ascher nicht einmal mehr thematisiert, weil sie intellektuell erledigt sind; die Halacha muß der moralischen und bürgerlichen Selbstbestimmung im Zeichen der kantischen Autonomie weichen. Nachdem Kants Kritiken die metaphysisch verbrieften Vernunftwahrheiten der natürlichen Religion zerstört und für den Glauben Platz geschaffen haben, konstituieren nicht mehr Vernunft und Offenbarung, sondern Glaube und Offenbarung die Religion im allgemeinen, und, als Spezialfall, das Judentum:
«Die subjective Bedingung des Judenthums ist die einer jeden geoffenbarten Religion: Glaube, die objective: Offenbarung. Der erste Zweck desselben war: einer Anzahl von Menschen eine übereinstimmende Denkungsart beizubringen, und sie dadurch zu einem Körper zu schaffen, oder eine Gesellschaft zu constituieren, die durch das Band des Glaubens (Religion) vereinigt, bleiben sollte.
Uebrigens entwickelte sich das Judenthum, wie eine jede andere Religion; der Glaube, durch Offenbarung beseelt, schuf sich ein Objekt, das man Religion nennt, durch diese konnte er mitgetheilt werden, und durch diese Mittheilung ward er herrschend. Indem man nun in diesem Objekt, die Materie der Offenbarung, das Princip, und die Form derselben, die Lehre, unterschied; so erhielt man durch jene das eigentliche Subjekt des Glaubens und durch diese das Objekt desselben .» 77
Was ist nun aber, fragt sich Ascher, der Zweck der aus Offenbarung und Glaube constituierten jüdischen Reli-