Nachspiel: Moses im aufgeklärten Kinderbuch
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ermöglicht die Aufweichung ihrer normativen Geltung, sie als Geschichten- und Geschichtsbuch zu sehen, aus dem je nach Bedarf, Weltanschauung und Geschmack ästhetische und pädagogisch-moralische Inhalte herausgelöst werden können. In dem Augenblick, in dem das Ganze nicht mehr unantastbar ist, stehen die Teile zur Disposition, können Wichtiges und Unwichtiges, Wesentliches und Unwesentliches, Schönes und Häßliches, Spannendes und Langweiliges unterschieden werden. Die Aufweichung der normativen Wortwörtlichkeit setzt den Pentateuch auch für eine Aufweichung der textuellen, chronologisch-historischen und ästhetischen Wortwörtlichkeit frei. Aus der biblischen Geschichte im Singular als religiös-normatives Narrativ werden biblische Geschichten im Plural, aus der Geschichte des Moses werden Ge- schichtchen, aus dem Verfall der Heilsgeschichte resultiert die biblisch-religiöse Anekdote.
Dieser Wandlung unterliegt die Moses-Figur am Ende der Haskala im deutschsprachigen Raum, als Moses zum Gegenstand des Kinder- und Schulbuchs wird. Die Haskala und ihre Erziehungs-Ideale haben sich so weit durchgesetzt, daß die jüdischen Knaben nicht mehr ab dem Alter von vier Jahren in der sprichwörtlichen «Judenschule» klassenweise, lauthals und Satz für Satz die Tora im hebräischen Originaltext aufsagten und dadurch memorierten. Durch diesen Unterricht, wie er heute noch in Mea Schearim oder Brooklyn gepflegt wird, hatten die Traditionalisten sowohl Hebräisch als auch die Inhalte der Tora von Kindesbeinen an gelernt und internalisiert.
Ein halbes Jahrhundert nach Beginn der Haskala in Preußen hatte sich jedoch nicht nur die Schulerziehung der meisten jüdischen Schulen und damit auch die Kenntnisse der Schüler völlig verändert. In den aufgeklärten jüdischen Schulen lernten sie, nach dem Modell der nichtjüdischen Schule und Pädagogik, zuerst Rechnen, Lesen und Schreiben in der Landessprache. Meist schon war Deutsch und nicht mehr Jiddisch ihre Muttersprache. He-