86 Das Verhältnis der Maskilim zum Talmud
hatte Wessely grundsätzlich zwischen einerseits Torat HaAdam , wörtlich übersetzt: der Lehre vom Menschen, die alles profane, empirische Wissen, Wissenschaft und Kultur umfaßt, und andererseits Torat HaSchem, der Lehre von Gott bzw. der jüdischen Religion und Religionslehre unterschieden . 101 Torat HaAdam ist dabei das allen Menschen zugängliche und verfügbare, natürliche und empirische Wissen; es umfaßt Philosophie, Moral, Natur- und Völkerrecht, Rhetorik, Ästhetik, Architektur und Künste, Geschichte, Geographie, Mathematik, Geometrie, Astronomie, Physik, Botanik und Medizin. Torat HaSchem hingegen ist die übernatürliche, nur den Juden ge- offenbarte und gegebene religiöse Lehre. Torat HaAdam ist, was den Menschen zum Menschen macht, Torat HaSchem, was den Juden zum Juden macht.
Anstoß erregte bei dieser Gegenüberstellung Wesselys grundsätzliche Aussage, die Wissenschaften des Menschen seien universaler, älter und allgemeingültiger als die auf partikularer geschichtlicher Offenbarung beruhende Gotteslehre . 102 Unter Berufung auf die Noachidischen Gebote 103 schreibt Wessely, Menschen könnten auch ohne die geoffenbarten religiösen Lehren nur aus ihrer Vernunft heraus sittlich leben und nützliche Weltbürger sein. Die Wissenschaften des Menschen haben aufgrund ihrer Vernünftigkeit und Universalität Geltung auch ohne die Offenbarung. Die geoffenbarten und über Generationen hinweg tradierten religiösen Lehren der Torat HaSchem hingegen setzen Vernunft, Wissenschaft und natürliche Sittlichkeit voraus und sind ein Addendum zu ihnen, das nur für Juden verbindlich ist.
In dieser Unterordnung der offenbarten jüdischen Religion mit ihren Lehren als Partikularem unter das Universale und allgemein Menschliche des profanen Wissens, der Wissenschaft, Moral und Kultur liegt implizit eine prinzipielle Einschränkung der Geltung von Tora und Talmud gegenüber allgemeinen Vernunft- und Moralprinzipien. David Friedländer pointiert diese Hierarchisierung