Die Lehre vom Menschen und die Lehre von Gott 87
in seiner Übertragung von Wesselys Schrift, indem er, ganz im Sinne des Universalismus der europäischen Aufklärung, einen Satz in seine Übertragung einfügt, der in Wesselys hebräischem Originaltext nicht steht: «Mensch seyn ist eine Stufe höher als Israelite seyn.» 104 Aber aus dieser Position läßt sich kein Haß spezifisch gegen den Talmud ableiten, auch keine totale Verwerfung desselben oder der religiösen jüdischen Literatur. Der Talmud und die religiöse Erziehung erhalten allerdings einen anderen, nachgeordneten Platz im Universum des Wissens. Vernunft und Allgemeinbildung behaupten sich nicht nur neben der Religion und ihren Lehren, sie sind vielmehr anthropologisch deren Voraussetzung. Wissenschaften vom Menschen können ohne Gotteslehre existieren und Geltung beanspruchen, umgekehrt gilt das nicht.
Folgerichtig macht Wessely im selben Buch Vorschläge zur Erziehung jüdischer Knaben, die das Studium des Talmud der Allgemeinbildung im Rechnen, Lesen, Schreiben, dem Erlernen von Fremdsprachen, Kenntnissen in Geschichte und Geographie nachordnen. Für die meisten Knaben ist Talmud-Ausbildung gar nicht mehr vorgesehen: «Hat er [der Knabe] zum Studium der Mischna und des Talmud kein Genie, so ist es besser, daß er sich mit diesem subtilen und scharfsinnigen Studio gar nicht befaßt. Man gebe ihm alsdann in denjenigen Dingen weitern Unterricht, die sich auf seine Neigung und künftigen Stand beziehn, die ihn zum nützlichen Bürger bilden.» 105 Denn das oberste Erziehungsprinzip Wesselys lautet, Rousseaus £mile im Sinn und die Bibel mit dem König Salomo auf der Zunge (Spr. 22,6): «Gib dem Knaben Unterricht nach seiner Weise», 106 d.h. altersgerecht und gemäß seinen körperlichen und seelisch-intellektuellen Fähigkeiten.
Daher soll in den jüdischen Schulen, so das Erziehungsprogramm Wesselys, nur einer kleinen Anzahl besonders geeigneter Schüler Talmud und Mischna gelehrt werden. Und dies nach dem erheblich wichtigeren Studium der Bi-