90 Das Verhältnis der Maskilim zum Talmud
und Talmud verhilft, weil sie zumindest Teile derselben nicht mehr verstehen. Vorsichtiger und mit mehr Ehrfurchtsbekundungen als Euchel kann man nicht anbringen, daß es selbst für die religiösen Virtuosen, die überhaupt nicht anderes tun als Talmud zu lernen, eine noch bessere Verständnis- und Lernmöglichkeit für diese Schriften gibt, nämlich die aufgeklärte, die religiöse Observanz mit historischem Wissen paart. Kurz: Selbst den Frömmsten kann durch Aufklärung in ihrer ureigenen Domäne geholfen werden.
Die Pointe dieser Ausführungen Euchels aber ist, daß er die genannten Schriften selbst als historische Dokumente betrachtet, die in einem bestimmten historischen Kontext entstanden sind. Denn sonst könnte historisches Wissen zu ihrem besseren Verständnis nichts beitragen. Damit ist jedoch augenscheinlich, daß Euchel den Talmud als historischen und nicht als Offenbarungstext liest und begreift, über den er sich mit den Mitteln des Historikers besseres Wissen und Aufklärung verschafft.
War bei dem moderaten Maskil Wessely im Jahr zuvor, 178z, der Talmud noch Teil von offenbarter Gotteslehre gewesen, so ist er beim Kantianer Euchel nur noch historisches Dokument, Menschenwerk, Dokument der großen Rabbiner Israels in der Spätantike. Diesem historischen Dokument mit großer Traditionswirkung gebührt Achtung, aber es wird durch den Maskil wissenschaftlichhistorischer Kritik unterworfen und durch diese nur noch besser verständlich. Parallel zur Historisierung der hebräischen Bibel als Menschenwerk, wie sie auf christlicher Seite exemplarisch bei Reimarus, Michaelis und fast zeitgleich in Herders Geist der ebräischen Poesie (1782/83) vollzogen wurde, liegt hier bei Euchel eine Historisierung des Talmud vor, die diesen als nur menschliches und damit menschlicher Fehlbarkeit und Mißverständnissen unterworfenes historisches Dokument begreift.
Aus purer Vorsicht sagt Euchel dies nicht ausdrücklich, aber hinter der Fassade der Achtungsbekundungen für die