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Die jüdische Aufklärung : Philosophie, Religion, Geschichte / Christoph Schulte
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90 Das Verhältnis der Maskilim zum Talmud

und Talmud verhilft, weil sie zumindest Teile derselben nicht mehr verstehen. Vorsichtiger und mit mehr Ehr­furchtsbekundungen als Euchel kann man nicht anbrin­gen, daß es selbst für die religiösen Virtuosen, die über­haupt nicht anderes tun als Talmud zu lernen, eine noch bessere Verständnis- und Lernmöglichkeit für diese Schrif­ten gibt, nämlich die aufgeklärte, die religiöse Observanz mit historischem Wissen paart. Kurz: Selbst den Frömm­sten kann durch Aufklärung in ihrer ureigenen Domäne geholfen werden.

Die Pointe dieser Ausführungen Euchels aber ist, daß er die genannten Schriften selbst als historische Dokumente betrachtet, die in einem bestimmten historischen Kontext entstanden sind. Denn sonst könnte historisches Wissen zu ihrem besseren Verständnis nichts beitragen. Damit ist jedoch augenscheinlich, daß Euchel den Talmud als histo­rischen und nicht als Offenbarungstext liest und begreift, über den er sich mit den Mitteln des Historikers besseres Wissen und Aufklärung verschafft.

War bei dem moderaten Maskil Wessely im Jahr zuvor, 178z, der Talmud noch Teil von offenbarter Gotteslehre gewesen, so ist er beim Kantianer Euchel nur noch histo­risches Dokument, Menschenwerk, Dokument der großen Rabbiner Israels in der Spätantike. Diesem historischen Dokument mit großer Traditionswirkung gebührt Ach­tung, aber es wird durch den Maskil wissenschaftlich­historischer Kritik unterworfen und durch diese nur noch besser verständlich. Parallel zur Historisierung der hebräi­schen Bibel als Menschenwerk, wie sie auf christlicher Seite exemplarisch bei Reimarus, Michaelis und fast zeit­gleich in Herders Geist der ebräischen Poesie (1782/83) vollzogen wurde, liegt hier bei Euchel eine Historisierung des Talmud vor, die diesen als nur menschliches und damit menschlicher Fehlbarkeit und Mißverständnissen unterworfenes historisches Dokument begreift.

Aus purer Vorsicht sagt Euchel dies nicht ausdrücklich, aber hinter der Fassade der Achtungsbekundungen für die