Jüdischer Hausvater und jüdischer Voltaire 97
keine Gerechten oder Heiligen, sondern «Schriftsteller», die einen allzumenschlichen Text verfaßt haben, der eo ipso nicht die Offenbarung göttlicher Gesetze sein kann und in der Gegenwart ohnehin unverständlich geworden ist. Damals waren jene unverständlichen Passagen vermutlich verständlich und konnten von ihren Autoren, den Rabbinen, erklärt werden, in der Gegenwart sind sie es nicht mehr und werden darum zu Recht nicht mehr beachtet: «Die großen Männer, die sie niedergeschrieben haben, konnten sie gewiß erklären, und haben sie auch wahrscheinlich ihren Schülern, denen sie vortrugen, erklärt. Uns sind und bleiben es Geheimnisse, die wir weder wörtlich annehmen, noch ihnen willkührlich einen Sinn unterlegen dürfen .» 129
Nach Friedländer sind die genannten Passagen einer allegorischen Deutung verschlossen, bei einem wörtlichen Verständnis gerät man sogar in Widerspruch mit den Grundsätzen der jüdischen Religion und untergräbt deren Fundamente. Implizit sagt Friedländer damit, daß der Talmud als religiöse Quelle in der Gegenwart unverständlich und unbrauchbar, wenn nicht sogar schädlich ist, ganz gleich nach welcher Hermeneutik und welcher Erklärungsweise des vierfachen Schriftsinns man ihn zu erläutern und verständlich zu machen sucht: Weder die wörtliche (Peschat) noch die allegorische ( Remes ) noch die moralische (Derasch) noch die geheimnisvoll-mystische (Sod) Auslegung des Talmud machen ihn verständlich und finden in der Gegenwart Anwendung. Im Gegenteil: Die aufgezwungene aktuelle Inanspruchnahme des Talmud tritt in Widerspruch zum gesunden Menschenverstand und tut dadurch dem Judentum als Religion, aber auch dem Talmud als bedeutendem und ehrwürdigem historischem Dokument der jüdischen Vergangenheit Schaden an. Friedländer abschließend:
«Alle wahre gottesfürchtige [!] Lehrer der Religion werden also diejenige [!] Lehrsätze oder Thesen aus dem Talmud, die allegorisch geschrieben sind, und einer geheim-