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Die jüdische Aufklärung : Philosophie, Religion, Geschichte / Christoph Schulte
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101
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Das hauptsächlichste Augenmerk unserer Nation ioi

machen konnten, was sie wollten .» 132 Der jüdische Ge- lehrten-Adel aber sind die Talmudisten. «Das Studium des Talmud ist das hauptsächlichste Augenmerk unsrer Na­tion bei einer gelehrten Erziehung. Reichtum, körperliche Vorzüge und Talente aller Art haben zwar in ihren Augen einen Wert und werden verhältnismäßig geschätzt; nichts aber geht bei ihr über die Würde eines guten Talmudi­sten .» 133 Angesichts dieser Wertschätzung für die jüdische Aristokratie der Talmudisten ist der Mißerfolg des Meas- sef für Maimon vorhersehbar, denn die des Talmud un­kundigen Meassfim werden einfach keine Anerkennung finden: «Alle aufgeklärten Leute, sie mögen sonst noch so viel Geschmack und Kenntnis besitzen, sind bei ihnen Idioten. Warum? Sie haben den Talmud (in dem Grade und nach der Art, wie sie es verlangen) nicht studiert. Mendelssohn war einigermaßen von dieser Seite geachtet, weil er in der Tat ein guter Talmudist war .» 134

Ausführlich und aus eigener Erfahrung schildert Mai­mon die Ehrerbietung und die hohe religiöse und soziale Achtung, die einem Talmudisten in den jüdischen Ge­meinden, in Städten und Dörfern Osteuropas entgegenge­bracht wurde. Der Talmudist habe dort unumschränkte religiöse Entscheidungsgewalt in allen Alltagsfragen, er geht keiner Arbeit als dem Talmud-Lernen nach, er ist ein gefragter Schwiegersohn, dessen Schwiegereltern und Frau für seinen Lebensunterhalt aufkommen müssen, er bringt sein Leben «in gelehrtem Müßiggang» zu . 135 Maimon sieht diesen religiös-aristokratischen Lebenswandel auf Kosten von Frau und Familie nicht kritisch, vermutlich hat er sich eine solche vita contemplativa ohne Geldsor­gen und Erwerbsarbeit als Philosoph immer gewünscht. Er verteidigt vielmehr die Talmudisten als scharfsinnige intellektuelle Elite, und er rechtfertigt seitenlang auch die Moralität des Lebenswandels der Talmudisten gegen de­ren christliche und jüdische Kritiker . 136

Als Beispiele führt Maimon die Mildtätigkeit und Für­sorge für die Armen und Kranken, die Loyalität gegen-